Vision und Kalkül

Vision und Kalkül
(Tageblatt)

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Der neue Nationalstolz der Türkei wird vielfach als Größenwahn ihres Staatsoberhaupts interpretiert. Zuletzt belächelte man Präsident Recep Tayyip Erdogans 16 Krieger, die alle ein historisches türkisches Reich darstellen sollen.

Am Rande: Wieso amüsiert es eigentlich niemanden, wenn in Europas Hauptstädten ähnlich peinlich kostümierte Fanfarenträger Staatsoberhäuptern ihren Respekt zollen (die Briten sind auf diesem Gebiet fast nicht zu übertreffen)? Es verrät viel über unsere nach wie vor bestehende arrogante Haltung gegenüber der Türkei. Gerade deswegen sollte man sich ernsthaft mit der Symbolik dieser Krieger befassen. Sie gewährt tiefe Einblicke in die langfristige Vision Erdogans: Es geht ihm um nicht weniger als die Rückbesinnung auf die historische Größe der Türkei. Dabei spielt jedoch mehr als Größenwahn eine Rolle.

Während Mustafa Kemal „Atatürk“ die Republik Türkei 1923 aus den Trümmern des Osmanischen Reichs schuf und sie durch ihren laizistischen sowie westlichen Charakter als klaren Bruch mit dem osmanischen Herrschaftsstil definierte, will Erdogan nun wieder auf die Zeit vor 1923 blicken – was für „wahre“ Kemalisten eigentlich undenkbar ist. Atatürks Reformen, ein politischer Kraftakt, bestanden vor allem darin, das politisch-kulturelle Erbe des Osmanischen Reichs als rückständig zu bewerten.

Im Gegensatz zum multiethnischen Charakter der osmanischen Vielvölkerherrschaft war in der neuen Vision wenig Platz für ethnische Vielfalt. Dies, um einem starken Nationalstaat ganz nach westlichem Vorbild mit neuen Institutionen, neuer Rechtssprechung und einer anderen Vorstellung von Kultur den Weg für die Zukunft zu ebnen. Wenn Erdogan sich also vor diesem Hintergrund heute dazu entschließt, auf diese Epoche hinzuweisen, so ist dies nicht weniger als ein Bruch mit der kemalistischen Tradition. Das hat nichts mit Größenwahn zu tun, sondern mit politischem Kalkül. Die aktuelle AKP-Politik lässt an dieser These nur wenig Platz für Zweifel: Die Rückbesinnung auf islamische Werte, sprich auf die historischen Wurzeln der Türkei, ist eines der zentralen Anliegen von Erdogan. 2023 wird die türkische Republik ihr 100-jähriges Jubiläum feiern. Ein Blick in Erdogans politisches Programm zur „Vision 2023“ reiht sich in seine Politik einer Rückbesinnung auf die historische Größe der Türkei ein. Man will wieder eine Regionalmacht sein – ein Anspruch, der an die Ambitionen der Iraner oder der Saudis erinnert und somit für die Region wahrlich nicht ungewöhnlich ist.

Es stellt sich dennoch die Frage, ob Erdogan die Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln der Türkei nur aus politischem Kalkül nutzt, damit die AKP bei den Parlamentswahlen im Juni punkten kann – oder ob er tatsächlich wie Atatürk auf eine neue Türkei hinarbeitet. Die Antwort lautet: Er strebt beides an. Erdogan könnte 2023 mit seinem politischen Programm zu einem neuen Atatürk werden, allerdings durch eine entgegensetzte Schwerpunktsetzung. Hält er an seiner Politik fest, beraubt er die Republik ihrer kemalistischen Errungenschaften, indem er die Türkei wieder in ein altmodisches Korsett zwängt und damit das Land zwar in der Welt neu positioniert – dies aber mit altbekannten, konservativen Rezepten.