Selbstbestimmung

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(Tageblatt)

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„Es gibt immer eine Alternative“, meinte Gesundheitsministerin Lydia Mutsch bei der Vorstellung des ersten „Plan national de prévention du suicide“ am vergangenen Mittwoch.

Doch für die 85 Menschen, die sich im vergangenen Jahr in Luxemburg das Leben genommen haben (und für die vielen anderen davor), war dieser Schritt die einzige Alternative. Die meisten Selbstmorde, die zum Abschluss kommen, sind minutiös und sorgfältig geplant. Jeder Schritt ist durchdacht, immer wieder und immer wieder.

Luc Laboulle llaboulle@tageblatt.lu

Einen Menschen, der den festen Entschluss gefasst hat, seinem Leben ein Ende zu setzen – sei es als höchste Konsequenz der Selbstbestimmung oder als Erlösung von unerträglichem Leid –, kann man nur noch schwer von seinem Vorhaben abbringen. Man kann ihm helfen, gute Ratschläge geben, ihn ermutigen, man kann ihn trösten und lieben, man kann ihn rund um die Uhr überwachen und die Polizei verständigen, doch er wird eine Gelegenheit finden, seinen Plan umzusetzen.

Der Aspekt der Selbstbestimmung, der im nationalen Plan keine Berücksichtigung findet, nimmt beim Suizid einen hohen Stellenwert ein. Niemand kann einen Menschen gegen seinen Willen dazu zwingen, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Sein Leiden würde dadurch nur noch verstärkt. Was man tun kann, ist, den Hinterbliebenen besser zu helfen. Neben der Trauer wegen des Verlusts eines geliebten Menschen müssen sie sich wegen der Vorsätzlichkeit der Tat noch mit den Gründen auseinandersetzen. Liegt kein Abschiedsbrief oder ein offensichtliches Motiv vor, wird diese Frage zur täglichen Qual. Die gesellschaftliche Stigmatisierung des Suizids, die durch die Nicht-Berücksichtigung des Selbstbestimmungsaspekts nur noch verstärkt wird, führt zudem dazu, dass die Hinterbliebenen starke Schuldgefühle entwickeln, die zwischen der Idealisierung des Verstorbenen und Hassgefühlen ihm gegenüber hin- und herpendeln. Der nun vorgestellte „Plan national de prévention du suicide“ wurde von Psychologen und Psychiatern ausgearbeitet, von „Leit vum Terrain“, wie Dr. Fränz D’Onghia vom „Centre d’information et de prévention“ in einem Radiointerview auf 100,7 erläuterte. Doch die Psychiater und Psychologen können häufig nur auf individueller Ebene die Symptome von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen, die schlussendlich zum Selbstmord führen, bekämpfen.

Viel wichtiger aber noch wäre es, wieder nach den strukturellen Gründen zu suchen. Im Jahr 1897 verfasste der Soziologe Emile Durkheim eine groß angelegte empirische Studie zum Selbstmord und kam zu dem Schluss, dass in industrialisierten Gesellschaften die Anomie, der Werteverfall, für die hohen Suizidraten verantwortlich sei. Die Studie ist mittlerweile veraltet, doch der Ansatz hat weiterhin Bestand. Heute heißen die Gründe in den oberen und mittleren Gesellschaftsschichten Leistungsdruck im Beruf, vom Arbeitgeber willentlich erzeugter Konkurrenzkampf zur Produktionssteigerung, zu lange Arbeitszeiten, mangelnde Ruhepausen und Abbau der Arbeitnehmerrechte, die unweigerlich zu Stress, Mobbing, Burn-out und Depressionen führen. In den unteren Schichten heißen die Gründe Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Misere. Diese unweigerlichen Folgen des Kapitalismus und seiner liberalistischen Ideologie wurden im „Plan national de prévention du suicide“ bedauerlicherweise nicht berücksichtigt.