Scheinmündig

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Olivenöl-Kännchen dürfen nicht mehr auf Restauranttischen stehen, zu unhygienisch. Landwirte sollen bitte mit Einheitssaatgut Obst und Gemüse anpflanzen, wo kämen wir denn da hin, wenn jeder Apfel anders aussähe?

Fahrradfahrer müssen Helme tragen, bald wohl auch Fußgänger. Eine Pizza Napolitana darf maximal vier Zentimeter dünn sein und muss einen Durchmesser von 35 Zentimetern haben. In einem Kondom muss Platz für fünf Liter Flüssigkeit sein, dazu muss es mindestens eine Länge von 16 Zentimetern haben (angeblich eine Initiative der Franzosen). Und der indische Snack „Mumbai Mix“ soll aus Gründen politischer Korrektheit von nun an „Mumbai Mix“ heißen.

Janina Strötgen jstroetgen@tageblatt.lu

Mag sein, dass sich manche dieser Beispiele nach längerer Recherche als Zeitungsente herausstellen. Dennoch, der Regulierungswahn in der Europäischen Union ist nicht zu übersehen. Zum allgemeinen Wohl und Schutz der Bürger natürlich. Doch gehen Bestrebungen zu größerer Sicherheit immer auch auf Kosten der Freiheit. Jede Regelung ist gleichzeitig eine Verhaltenssteuerung, jedes Verbot, das Risiken minimieren soll, schränkt den Entscheidungsrahmen des Einzelnen ein.

Die Bereitschaft des Menschen, Risiken einzugehen, ist jedoch ein wesentlicher Antrieb, sowohl für die individuelle Lebensplanung als auch für den gesellschaftlichen Fortschritt.

Oder wie Quentin Quencher in seinem Blog Glitzerwasser treffend bemerkt: „No risk, no fun“, dieses geflügelte Wort, sei unzulänglich. „No risk, no future“ müsse es heißen. Denn wird dem Bürger durch Verbote und Regelungen abgenommen, selbst zu entscheiden, welche Risiken er bereit ist einzugehen, dann wird er zwangsläufig mehr und mehr für unmündig erklärt.

Sein oder haben?

Eine unmündige Gesellschaft ist zwar kontrollierbar, jedoch nicht in der Lage, Möglichkeiten zur Verbesserung des eigenen Lebens zu erkennen und zu ergreifen. Hierin liegt die eigentliche Gefahr des Regel- und Verbotewahns in Europa.

Denn damit zum Beispiel die wichtigen Maßnahmen, die François Hollande und Angela Merkel am 28. Mai in Paris zur Bekämpfung des wirklichen Problems der Europäischen Union, nämlich der hohen Jugendarbeitslosigkeit, vorgestellt haben, auch greifen können, bedarf es nicht nur Geld, sondern vor allem mündiger Bürger. Junge Europäer, die den Mut haben, ihr eigenes Unternehmen zu gründen und finanzielle Hilfen einzusetzen wissen. Lehrlinge und junge Berufstätige, die einem grenzüberschreitenden Austausch mit Spannung und Abenteuerlust statt mit Angst vor dem Fremden entgegenfiebern und Unternehmensdirektoren, die in der Unterstützung junger Arbeitnehmer nicht in erster Linie Risiko und Gefahr, sondern eine Investition in die Zukunft sehen. Europäische Citoyens eben, die nicht auf ihr drittes Auto, sondern zum Beispiel auf ihre Mehrsprachigkeit stolz sind, die ihr mündiges Sein nicht durch Besitz, sondern durch eine selbstbestimmte Haltung definieren.

Es sind weder unhygienische Olivenölflaschen noch zu enge Kondome, die die Europäische Union gefährden. Die Gefahr liegt in der Scheinmündigkeit, die sich durch alle Länder, Altersstufen und sozialen Schichten Europas zieht. Angefangen bei unseren Vertretern auf hoher politischer Ebene, die sich (und uns) zwar weiterhin vorzumachen versuchen, mündig zu sein, es aber immer weniger sind. Mündigkeit bedeutet, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen (auch ohne Leitung des Marktes), Mündigkeit ist Entscheidungsautonomie gekoppelt an Verantwortung.

„Welche Regierung die beste sey?“, fragte Goethe vor mehr als einem Vierteljahrtausend. Und er antwortete: „Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren!“