Retro 2021Risse im Fundament – Europa braucht wehrhafte Demokraten

Retro 2021 / Risse im Fundament – Europa braucht wehrhafte Demokraten
Ungarns Regierungschef Viktor Orban (r.) und der Parteiführer der polnischen PiS, Jaroslaw Kaczynski, nahmen am 4. Dezember am sogenannten „Warsaw Summit“ teil, der Vertreter national-konservativer bis rechtsextremistischer Parteien aus Europa versammelte Foto: AFP/Wojek Radwanski

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Wenn von der Europäischen Union gesprochen wird, dann wird zuweilen auf die Metapher des gemeinsamen Hauses zurückgegriffen, in dem alle Mitgliedstaaten unter einem Dach leben. Gebaut ist dieses Gebäude, so will man es gerne, auf einem soliden Fundament. Dieses setzt sich zusammen aus den Grundprinzipien, den Grundwerten, auf die sich die Europäer berufen, die im Wesentlichen die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Demokratie sind. Seit einigen Jahren allerdings tun sich Risse in diesem Fundament auf, die bislang nicht behoben wurden. Ein Mittel, dies zu tun, wurde mit dem Lissabonner Vertrag eingeführt. Ein weiteres wurde vor rund einem Jahr geschaffen und ist mit Beginn dieses Jahres in Kraft getreten: der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus. Nur die beiden Urheber der Risse, die polnische und die ungarische Regierung, wurden bisher noch nicht für den Schaden belangt. Dabei wurde gegen beide Länder bereits ein Verfahren nach Artikel 7 des Lissabonner Vertrages eingeleitet, das zu einem Entzug des Stimmrechts im Ministerrat führen kann, wenn eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundwerte der EU besteht. Ungarn und Polen haben sich gegenseitig zugesichert, einander mit einem Veto vor einem derartigen Verfahren zu schützen. Allerdings haben sich die übrigen EU-Staaten bislang auch zurückgehalten, die Prozedur voranzutreiben. Immerhin haben die 27 den Rechtsstaatsmechanismus eingeführt. Er ist zwar in seiner Anwendung eingeschränkt, kann aber von der EU-Kommission nach eigenem Ermessen eingesetzt werden und trifft dort, wo es am meisten weh tut: im Geldbeutel.

Der Ausbau der sogenannten illiberalen Demokratie geht dennoch weiter. Polen weigert sich nicht nur, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gegen Teile seiner umstrittenen Justizreform umzusetzen. Die von der national-konservativen PiS geführte Regierung provoziert weiter, lässt vom eigenen Verfassungsgericht EU-Recht als zweitrangig gegenüber polnischem Recht deklassieren und bringt ein Mediengesetz durchs Parlament, mit dem ein regierungskritischer Fernsehsender mundtot gemacht werden soll. Zwar hat Präsident Andrzej Duda sein Veto gegen das Gesetz eingelegt, an der Grundhaltung der Regierung wird sich nichts ändern.

Nun warten alle auf die EU-Kommission, dass sie endlich den Rechtsstaatsmechanismus aktiviert. Die EU-Länder haben mit der Schaffung dieses Verfahrens die Verantwortung auf „Brüssel“ abgewälzt, tätig zu werden. Das ist formell gesehen in Ordnung und sicherlich auch der richtige Weg. In wesentlichen Fragen, die immerhin die Grundprinzipien und -werte der Union betreffen, müssten sich jedoch auch die Mitgliedstaaten  öffentlichkeitswirksam stärker engagieren und vor allem äußern. Es ist nicht nur das „Brüsseler Bürokratiemonster“, wie es der Ungar Viktor Orban und sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki gerne darstellen, das auf die Einhaltung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien besteht, sondern alle anderen EU-Staaten. Das wäre sicherlich auch ein deutliches und hilfreiches Signal an die Menschen in Polen und Ungarn, ihre Regierungen entsprechend unter Druck zu setzen. Und möglicherweise eine Entscheidungshilfe bei kommenden Wahlen.