Prekarität per Vertrag

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In ganz Europa spüren die Menschen nun bereits seit mehreren Jahren die Folgen der internationalen Wirtschaftskrise, die zu Sozialabbau und einem die Kaufkraft würgenden Austeritätskurs geführt hat, auch wenn die soziale Krise in den verschiedenen Ländern unterschiedlich stark fortgeschritten ist.

Während soziale Errungenschaften infrage gestellt bzw. abgeschafft wurden, wurde Arbeit zur Mangelware. Im Monat Juli hatten 26,6 Millionen Menschen in der Europäischen Union keinen Job. Die Arbeitslosenquote war mit 11,0 Prozent wieder einmal höher als im Vorjahr (10,5 Prozent). Auch in Luxemburg ist die Zahl der Jobsuchenden mittlerweile auf eine traurige Rekordhöhe gestiegen. So erreichte im Juli die Arbeitslosigkeit erstmals die 7-Prozent-Marke.

Michelle Cloos

mcloos@tageblatt.lu

Doch sogar wer einen Job hat, ist nicht automatisch auf der gewonnenen Seite. Seit Jahren befinden sich zeitlich befristete Arbeitsverträge auf dem Vormarsch. Der CDI, der zeitlich unbegrenzte Kontrakt, wird besonders für junge Leute in immer mehr EU-Staaten zur heiß ersehnten Rarität. Während die Prekarisierung europaweit ein Problem darstellt, hat sie im EU-Mitgliedstaat Großbritannien geradezu erschreckende Ausmaße erreicht.

Nur Flexibilität, null Sicherheit

Man stelle sich vor: Ein Arbeitnehmer erhält einen Arbeitsvertrag. Die minimal vorgesehene Arbeitszeit: null Stunden. Der Beschäftigte wartet demnach tagaus, tagein darauf, dass sein Arbeitgeber ihm Arbeit anbietet. Er hat null Planungssicherheit, weder was seinen Tagesablauf angeht noch was seinen Monatslohn betrifft. Er weiß nie, ob, und wenn ja, wie viel er arbeiten und folglich auch verdienen wird. Er ist seinem Arbeitgeber also hundertprozentig ausgeliefert.

Es handelt sich hierbei nicht um Realitäten aus längst vergangenen Zeiten, sondern um die britischen Null-Stunden-Kontrakte. Sie ermöglichen die in Patronatskreisen hoch gepriesene Flexibilität ohne auch nur einen Hauch von finanzieller Absicherung. Diese Verträge sind in Großbritannien zwar kein neues Phänomen, doch haben sie in den letzten Jahren erschütternde Ausmaße angenommen.

Mehr als eine Million Menschen haben heutzutage einen sogenannten „zero hour contract“. Tendenz steigend. Sports Direct, die Tate Galleries und sogar der Buckingham Palace benutzen die ultraprekären Arbeitsverträge. McDonald’s hält derzeit mit 82.800 Null-Stunden-Einstellungen den absoluten Rekord. Unter den Betroffenen befinden sich auch Frauen und Männer mit Familien, für deren Versorgung sie finanziell aufkommen müssen. Diese Menschen leben in einer ständigen Unsicherheit, die die totale Prekarität mit sich bringt. Besonders junge Leute und Personen mit einem niedrigen Ausbildungsniveau werden oftmals mit solchen Arbeitsverträgen eingestellt.

Der Gipfel der Perversion: Wenn der Arbeitgeber die Angestellten nicht braucht und ihnen keinen Job anbieten kann, müssen diese ohne Geld auskommen und sich damit begnügen, einfach auf bessere Zeiten zu warten. In der Zwischenzeit für einen anderen Auftraggeber arbeiten dürfen sie indes nicht. Der Kontrakt beinhaltet nämlich eine Exklusivitätsklausel.

Solch abscheuliche Zustände sind eines modernen Landes, das sich auch um das soziale Wohlergehen seiner Bürger sorgen müsste, nicht würdig. Diese Verträge können keineswegs mit dem Schlagwort „Flexibilität“ erklärt oder gerechtfertigt werden. Sie haben nichts mehr mit einem normalen Arbeitsverhältnis zu tun, sondern stellen eine Art Sklaven-Kontrakt des 21. Jahrhunderts dar. Und das in einem EU-Land.