/ Null Toleranz, es ist Fußball
Noch mal Latte und in die Hände des Tormanns. Verdammt! Was sagt mein Linienrichter? Was sagt er? Kein Tor, also kein Tor! Die Engländer bestürmen mich. Schnell. Kein Tor! Die Fans pfeifen. Kein Tor. 39 Kameras wissen es besser. Es war der schwärzeste Moment meiner stolzen Karriere, die mich bis zur Fußball-Weltmeisterschaft geführt hat. Aber ich konnte es nicht sehen.
Argentinien – Mexiko, klassisch. Stehe im Niemandsland abseits des Spielgeschehens, gute Sicht. Torwart rettet, Abpraller, plötzlich hämmert der argentinische Stürmer ihn rein. Tor! Linienrichter? Tor. Kaum Proteste, nur vom Torwart. Aber der fühlte sich eh hart angegangen. Tor. 39 Kameras wissen es besser. Nach dem Spiel schauen wir Schiedsrichter verblüfft die Szene im TV. Abseits. Wir haben es nicht gesehen.
Eine unglaubliche Diskussion ist entbrannt. Und wir dürfen nichts sagen. Der Fußball-Weltverband lässt uns im Regen stehen, wir dürfen uns noch nicht einmal rechtfertigen. Die FIFA hat uns WM-Referees einen Maulkorb verpasst. Zum Glück, könnte man fast meinen, bei den Schlagzeilen vom letzten Montag, nach England, nach Mexiko. Nur nicht verrückt machen lassen, es ist nur ein Spiel! Und ich habe schon Hunderte solcher Spiele gepfiffen.
63. Minute, ich schaue auf den Spanier Xavi. Pass und auf der Seite macht ihn einer rein. Drei Portugiesen haben zeitgleich die Hand gehoben. Ich muss entscheiden, und zwar unmittelbar. Mein Linienrichter stand genau auf Ballhöhe. Tor. Alles klar. So oder so, in dubio pro reo. Im Zweifel für den Angreifer, so lautet die Regel. Also Tor. 39 Kameras wissen es besser. Spaniens Siegtor wurde aus einer Abseitsstellung erzielt. Ich konnte es nicht sehen.
Also, wir haben die Lust an der Fußball-Weltmeisterschaft verloren. Sollen sie sich doch bis zum Finale über uns Schiedsrichter aufregen. So lässt sich auch wunderbar übertünchen, dass sie einfach nur unglaublich schlecht gespielt haben. Und völlig verdient ausgeschieden sind. Dass sie das viele Geld nicht wert sind, das sie verdienen.
Goldene Regeln
Wie hießen noch mal die beiden goldenen Regeln des Sports?
Erstens: Ich bin aufrichtig. Ich achte die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln. Zum Sport gehören gleichermaßen Sieg und Niederlage. Ich will mich bemühen, mit Anstand zu gewinnen und zu verlieren.
Zweitens: Ich bin tolerant. Ich akzeptiere die Entscheidungen des Schiedsrichters, selbst wenn sie mir als unrichtig erscheinen. Ich betrachte meine Gegner nicht als Feinde, sondern als Partner.
So sollte es sein. Und genau deshalb engagieren sich junge Menschen als Unparteiische. Nach dieser Weltmeisterschaft wohl ein paar weniger.
Vielleicht sollten die elektronischen Hilfsmittel ja doch eine größere Rolle spielen. Denn der Idiot der Welt zu sein, macht wirklich keinen Spaß. 39 Kameras können nicht irren.
Null Toleranz, es ist Fußball, und die ganze Welt schaut zu.
Philip Michel
pmichel@tageblatt.lu