Liberaler, kälter und brutaler

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Hurra, der Liberalismus britischer Faktur schreitet unaufhaltsam voran: In seiner Ausgabe vom 1. Juni freut sich der Bannerträger des Wirtschaftsliberalismus, der Londoner Economist, dass die britische Jugend immer liberaler denkt und handelt.

Das große Vorbild dieser Generation scheint der Londoner Bürgermeister – und Tory-Premier in spe – Boris Johnson zu sein, ein Konservativer, der aber in seinem Auftreten alles andere als konservativ zu sein versucht. Und dementsprechend sind viele junge Menschen auf der Insel auch auf eine besondere Weise „liberal“:

Viele von ihnen befürworten z.B. die Homosexuellen-Ehe und bewundern gleichzeitig die Streitkräfte, die von ihrer Natur her ja nun eher kein Hort des Liberalismus sind. Den Economist mag all das freuen, dem kontinentalen Beobachter schaudert aber eher, wenn er sieht, welche Mentalität mehrere Jahrzehnte des Thatcherismus und des Blairismus da in den Köpfen der Jugend herangezüchtet haben: Das Blatt zitiert den Eindruck der 22-jährigen Vorsitzenden des „British Youth Council“, dass „du in Konkurrenz zur Person neben dir stehst“, dass „die Leute aus unserer Generation einander einen unglaublichen Wettbewerb liefern“.

Oder anders ausgedrückt: „Een ass deem anere säin Däiwel“. Hauptsache aber, man kommt cool dabei rüber.

Solidarität, das war gestern

Gleichzeitig, so haben Umfragen ergeben, halten diese jungen Menschen immer weniger von einem Grundwert einer zivilisierten Gesellschaft, nämlich dem des Solidaritätsgedanken.
Dass diese Generation der sozialen Rolle des Staates äußerst skeptisch, ja zynisch gegenübersteht, hat indes seinen Grund: Dieser Staat kümmert sich offensichtlich immer weniger um das Wohlergehen der Jungen.

Auch in Großbritannien ist im Laufe der vergangenen fünf Jahre die Jugendarbeitslosigkeit um die Hälfte angewachsen, und immer mehr junge Menschen müssen sich trotz Universitätsabschluss mit prekären Gelegenheitsjobs – etwa als Kellner – durchschlagen.

Gleichzeitig wird Studieren immer teurer, und die staatlichen Subsidien sinken. Die Unternehmen beuten junge Arbeitnehmer zudem schamlos aus, indem sie ihnen oft nicht mehr als ein unbezahltes Praktikum nach dem anderen anbieten. Leute, die keinen festen Job haben, erhalten keinen Kredit bei der Bank, haben kaum Aussicht auf Wohnungsbesitz oder eine anständige Rente.

Dessen ungeachtet hat der konservative Premier Cameron ein Gesetz in der Planung, das den älteren Generationen die Garantie gibt, dass niemand sie zwingen kann, ihr Haus zu verkaufen, um Altersheim und Pflege zu finanzieren. Die Jungen erleben also, dass der Generationenvertrag, die Idee der Solidarität zwischen den Generationen, aufgekündigt wird, und dass sie – jeder für sich – zusehen müssen, wie sie klarkommen. Dieses „jeder für sich, und der Teufel hole all die, welche nicht mithalten können“ könnte sich aber in nicht allzu langer Zeit als Katastrophe für den Zusammenhalt der britischen Gesellschaft erweisen.

Einen echten Wirtschaftsliberalen kann der Abbau des Sozialstaates und der Triumph eines rücksichtslosen Individualismus über den Solidaritätsgedanken eigentlich nur freuen. Ob aber seine Freude von Dauer bleiben kann, wenn er in einer Gesellschaft leben muss, die immer kälter, rücksichtsloser und brutaler wird, das wird sich erst noch erweisen müssen.