Leitartikel: Noch einmal Barroso?

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Bei dem morgen in Brüssel beginnenden EU-Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs soll unter anderem eine politische Entscheidung über eine zweite Amtszeit des derzeitigen EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso fallen. / Guy Kemp

Eine formelle Entscheidung wird vor allem auf Drängen Frankreichs und Deutschlands noch hinausgeschoben. Wohl um die Abgeordneten im Europäischen Parlament im Hinblick auf deren Zustimmung milde zu stimmen, sollen erst noch die Fraktionspräsidenten im EP um ihre Meinung gefragt werden. Denn bei der vermutlich im Juli stattfindenden Kür Barrosos in Straßburg wollen die Regierungschefs eine Überraschung möglichst vermeiden.
Nicht nur die vielen EU-Kritiker, -Skeptiker und -Gegner, die mit den EU-Wahlen in die europäische Volksvertretung geschwemmt wurden, bilden bei der Nominierung des alt-neuen Kommissionspräsidenten einen Unsicherheitsfaktor. Auch einige der etablierten Fraktionen sind nicht mehr bereit, Barroso für die kommenden fünf Jahre ohne Weiteres einen Persilschein auszustellen, wenn sie nicht gar wie die Grünen gegen Barroso mobilmachen. Das deutsch-französische Zögern bei der Festlegung auf einen nächsten Kommissionspräsidenten dürfte daher auch damit zu erklären sein, dass das Parlament nicht erneut durch ein Diktat vom Rat bei der Ausübung seiner Mitentscheidungsrechte kaltgestellt werden soll. Denn es ist neu, dass den EP-Parlamentariern dabei so viel Aufmerksamkeit zukommt. Vor fünf Jahren noch wurde den Abgeordneten lediglich zugestanden, den Dritte-Wahl-Präsidenten abzunicken. Diese revanchierten sich jedoch, indem sie anderen Kommissaren ihre Zustimmung verweigerten und so die Einsetzung der neuen EU-Kommission um einiges verzögerten.

Deklamatorisch sozial

Hauptkritikpunkte, die Barroso von den mit seiner Arbeit Unzufriedenen aus dem EP entgegengebracht werden, sind seine neoliberale Ausrichtung und sein nur spärlich entwickelter Sinn für das Soziale. Er passt vielleicht in eine Kommission, deren hauptsächliche Aufgabe seit Jahren in einer einseitigen Entwicklung des Binnenmarktes zu bestehen scheint. Er passt damit aber nicht in diese Zeit. Der Portugiese war denn auch in den vergangenen Tagen und Wochen merklich darum bemüht, viel über die soziale Dimension der gegenwärtigen Wirtschaftskrise zu reden. Und versteht es somit, sich wieder einmal zumindest deklamatorisch der derzeitigen Situation und den Erwartungen anzupassen.
Denn soziale Umsicht war seiner Kommission bislang eher wesensfremd. Im Gegenteil: So unterließ es die Barroso-Kommission, trotz des schweren Erbes einer Bolkestein-Richtlinie aus der Prodi-Zeit, die dabei offengelassene Frage der öffentlichen Dienstleistungen auf EU-Ebene zu klären, wohl in der Hoffnung, dass ein Teil dieser Dienste doch noch dem freien Markt ausgeliefert werden könnte. Und obwohl das Gesundheitswesen aus offensichtlichen Gründen aus der Bolkestein-Richtlinie ausgeklammert wurde, versuchte die Barroso-Kommission, doch noch diesen Bereich mit einer Richtlinie über die Rechte von Patienten, die sich im Ausland medizinisch behandeln lassen, in den Regelungsbereich des Binnenmarktes zu hebeln.
Das eigentliche Drama an Barroso jedoch ist der Mangel an alternativen Kandidaten für den Posten des Kommissionsvorsitzenden. Selbst den europäischen Sozialisten fällt keiner ein, weshalb die einen für, die anderen gegen Barroso sind. Keine ideale Ausgangssituation für die sozialistischen EP-Abgeordneten, die Barroso nicht bedingungslos zustimmen wollen.

gkemp@tageblatt.lu