LEITARTIKEL: Leistunggegen Cash

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Nicht jede Welle, nicht jede Mode, die aus den Vereinigten Staaten von Amerika zu uns herüberschwappt, ist schlecht. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber nicht unbedingt, dass wir – im alten Europa – den USA ohne kritische Hinterfragung alles gleichtun müssen. / Tom Wenandy

Ein erschreckendes Beispiel von schlechter Nachahmung gibt es seit kurzem in Frankreich.
Im südöstlich von Paris gelegenen Créteil werden seit dem 5. Oktober rund 150 Schüler in drei „Lycées professionnels“, also in Berufsschulen, probeweise und auf freiwilliger Basis für ihre Leistungen, sprich für ihre Teilnahme am Unterricht, für ihre Gewissenhaftigkeit und ihr Benehmen, bezahlt. Die politisch Verantwortlichen wollen auf diesem Weg dem Schulschwänzen entgegenwirken und den zahlreichen Schulabbrechern einen Anreiz zum Lernen liefern. In den USA sind solche „Belohnungen“ vielerorts schon länger gängige Praxis. So versuchen zum Beispiel in New York City Pädagogen an mehr als 30 Schulen bereits seit Jahren, mittels Geldprämien ihre Schüler anzuspornen und so zu guten Noten zu animieren. Mit Erfolg, wenn man den amerikanischen Behörden Glauben schenken darf.
Zwar unterscheidet sich das von der französischen Regierung geförderte „Bildungsprojekt“ von seinem amerikanischen Vorbild dadurch, dass die von Schülern „verdienten“ Gelder in eine Gemeinschaftskasse und nicht in den Geldbeutel des jeweiligen Schülers fließen. Nichtsdestotrotz wirft diese Praxis einige Fragen auf und bedarf einiger Bemerkungen.

Politischer Bankrott

Prinzipiell ist es zu begrüßen, wenn eine Regierung (unabhängig davon, ob es sich um die französische oder um eine andere handelt) gegen den Bildungsnotstand in ihrem Land vorgehen will und diesbezüglich verschiedene Projekte in die Wege leitet. Dies zeigt, dass das Problem erkannt wurde. Wenn dieselbe Regierung sich aber keiner anderer Maßnahme zu bedienen weiß, als Geld als Motivationsquelle für Schüler einzusetzen, kommt dies einer (bildungs-)politischen Bankrotterklärung gleich. Das „Geld gegen Leistung“-System ist in diesem präzisen Fall die „solution de facilité“. Das ernsthafte Angehen der Problematik der (fehlenden) Motivation beziehungsweise der (schlechten) Schülerleistungen würde nämlich voraussetzen, dass man existierende Methoden und Strukturen in Frage stellt. Programme müssten gegebenenfalls überdacht, die Aufgaben der Lehrer analysiert, Stundenpläne reorganisiert werden: Arbeiten, ja teilweise selbstkritische Anstrengungen, die die politisch Verantwortlichen wahrscheinlich nur bedingt bereit sind zu leisten.
Rein praktisch betrachtet ist die finanzielle Prämie für fleißige Schüler langfristig aus volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht zweifelsohne höchst kontraproduktiv. Vor allem aber ist die „Bezahlung von guten Schülern“, wie Le Parisien in seiner Ausgabe vom vergangenen 2. Oktober titelte, moralisch verwerflich und pädagogisch gesehen mit aller Vehemenz abzulehnen.
Denn wie der französische Erziehungswissenschaftler Philippe Meirieu in Le Monde erklärt, käme die Bezahlung von Schülern der kompletten Umkehr des eigentlichen Sinnes der Schule gleich. Der Austausch, auf dem das gesamte Bildungssystem beruht, würde durch die materielle Herangehensweise zerstört. Dabei ist es genau dieser Austausch (zwischen Lehrer und Schüler), der dazu beitragen soll, dass aus Jugendlichen nicht nur gebildete, sondern vor allem verantwortungs- und selbstbewusste Bürger werden. Als Ansporn und Belohnung müsste bzw. sollte der Stolz auf die eigene Leistung, auf die bestandene Herausforderung ausreichen.

twenandy@tageblatt.lu