LEITARTIKEL: Die Milliarde ganz unten

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Das Jahr 2009 wird zumindest für ein Ereignis in die Geschichtsbücher eingehen: Zum ersten Mal leben auf dem Planeten mehr als eine Milliarde unterernährte Menschen. / Francis Wagner

Zwar ist die Zahl an sich eher symbolisch (niemand weiß auf plus/minus mehrere Dutzend Millionen genau, wie viele Hungernde es tatsächlich gibt), doch geben gerade derartige symbolische Zahlen einen Eindruck von der Dimension des Problems.
Es soll ja Leute geben, die den Menschen als „Krone der Schöpfung“ betrachten: Es ist indes wohl eher so, dass der Schöpfer (wenn man denn partout meint, an Ihn glauben zu müssen) einen in der Krone hatte, als Er sich dieses gründlich missratene Wesen ausdachte. Kann man sich eine schlimmere Groteske ausdenken: Auf der einen Seite eine Milliarde Menschen, die am Nahrungsmittelmangel zugrunde geht, auf der anderen Seite eine Milliarde, die sich selbst mit grimmiger Entschlossenheit zu Tode mästet?
Dabei ist es nach wie vor keineswegs so, dass die Erde nicht genug Lebensmittel hervorbringen könnte, um all die Menschen unter der Sonne ausreichend zu versorgen. Selbst ein gewisser Zuwachs ist durchaus noch drin.
Hunger ist in der Regel eben nicht das Resultat unerbittlich waltender, anonymer Schicksalsmächte, Hunger ist meist das Resultat verfehlter oder krimineller Politik.

Hunger durch Spekulation

So hat der neoliberale Marktfundamentalismus viel dazu beigetragen, Agrarprodukte zu einem Spekulationsobjekt wie jedes andere zu machen. Dies führt dann dazu, dass die landwirtschaftliche Produktion an der Profitmaximierung ausgerichtet wird und nicht mehr an den Bedürfnissen der Menschheit.
Wenn mehr Weideland für die Produktion von Rindfleisch oder Palmöl gebraucht wird, dann hat der Urwaldbewohner halt eben Pech gehabt. Wenn er nicht in seiner Heimat vor Hunger krepieren will, hat er immer noch die „Wahl“, in die Elendsquartiere der Großstädte zu ziehen. Nach wie vor zeitigen aber auch subventionierte Agrarprodukte aus reichen Ländern verheerende Konsequenzen in der Dritten Welt: Tiefkühlhähnchen aus dem wohlhabenden Norden z.B. werden mit staatlicher Stütze künstlich so weit verbilligt, dass der afrikanische oder asiatische Kleinzüchter aus dem Markt gedrängt wird und sein Dasein fortan als hungerleidender Almosenempfänger fristen muss.
Als wären es der Probleme noch nicht genug, droht jetzt die Klimaerwärmung weitere Hunderte Millionen Menschen – vor allem in der Dritten Welt, aber nicht nur dort – ins Verderben zu treiben. Gegenden, in denen bisher zumindest Subsistenzwirtschaft möglich war, verdorren so weit, dass sie für menschliche Besiedlung nicht mehr geeignet sind. In anderen Weltregionen hingegen sorgen zusehends unberechenbarer werdende extreme Wetterphänomene und/oder der ansteigende Meeresspiegel dafür, dass die Ernten und der Ackerboden unwiederbringlich weggeschwemmt werden.
Dies ist umso empörender, als die am schwersten vom Klimawandel betroffenen Menschen an der Entstehung des Phänomens kaum beteiligt waren.
Und das Deprimierende daran: Bis die Auswirkungen des Klimawandels für die reiche Welt nicht selbst unerträglich werden, dürfte sich am derzeitigen katastrophalen Kurs wenig ändern. Nur dass halt bis dahin das eine oder andere Millionendutzend Menschen der Unterernährung zum Opfer gefallen sein wird.

fwagner@tageblatt.lu