LEITARTIKEL: Die Armutder anderen

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Ein Gespenst geht wieder um in Europa. / Sascha Bremer

Dabei hatte man geglaubt, man wäre es schon lange los. Besonders hier in Luxemburg, wo wir in den letzten beiden Jahrzehnten von Superlativ zu Superlativ gesprungen sind. Wer nicht dreimal pro Jahr in die Ferien flog oder mit seinem Luxusschlitten fuhr, hatte lediglich seine Karriere verkorkst oder galt als schrulliger Aussteiger.
Armut? Das betraf die kleinen Straßenkinder aus Indien, die Landlosen Lateinamerikas oder die Hungerleidenden Afrikas. Doch falls am Ende des Monats etwas übrig blieb – nachdem man die Rechnungen für alle Annehmlichkeiten bezahlt hatte –, half man gern in Form von Spenden.
Das beruhigte. Und half praktischerweise, die vielen schrecklichen Bilder zu vergessen, welche man allabendlich im Fernsehen geboten bekam – sofern man überhaupt noch hinguckte.
Gott, oder wem auch immer, sei Dank, gab es so etwas nicht in unserem schönen Marienland. Schließlich waren und sind wir weltweit die Ersten (Besten?), wenn es ums Pro-Kopf-Einkommen geht – oder haben wir da etwas übersehen? Natürlich, es kommt schon manchmal vor, dass man neben den vielen „Golden Boys“ aus Finanz und Wirtschaft auch den Obdachlosen („Ist er nicht schmutzig?“) vor der Tür der Börse bemerkt.
Und dann diese Nachricht! 13,4 Prozent der Einwohner Luxemburgs über 15 Jahre sind armutsgefährdet. Jeder siebte Einwohner. Ja, aber welche?
In den vorangegangenen Jahren hat eine solche Zahl die wenigsten aufgeschreckt, dabei blieb laut Statec dieser Wert seit 2003 fast unverändert.

Frauen und Kinder besonders gefährdet

Während 6,2 Prozent der Luxemburger Staatsbürger von Armut betroffen sind, liegt die Quote der ausländischen Bevölkerung bei 20,4 Prozent. Es sind wie so oft die wenig Qualifizierten, die besonders von der Verarmung bedroht sind (17,6 Prozent).
Bestürzend ist die Lage der Alleinerziehenden. 44 Prozent von ihnen sind verstärkt dem Armutsrisiko ausgesetzt. Müsste man einen soziologischen Idealtypus erstellen, würde man zum Ergebnis kommen, dass am meisten armutsgefährdet die alleinerziehenden, wenig ausgebildeten, ausländischen Frauen sind. 90 Jahre nach der Einführung des Stimmrechts für Frauen in Luxemburg sicherlich keine große Leistung auf dem Weg der Gleichberechtigung.
Dabei muss man bedenken, dass das Statec die Armutsgefährdung bei Kindern unter 15 Jahren erst gar nicht erfasst.
Das Gespenst der Armut war in den vergangenen florierenden Jahren in Luxemburg also eigentlich nie weg. Es spukt wegen der Scham, des Stigmas, das mit der Verarmung einhergeht, vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt in den Haushalten weiter.
Die Menschen, die von ihr am stärksten betroffen sind, haben weder medialen noch politischen Einfluss. Zwar gibt es die Lobbys, die in ihrem Namen sprechen, doch schenkten wir ihnen wirklich bis jetzt das nötige Gehör? Da es sich bei diesen Menschen zu einem guten Teil um Ausländer handelt, könnten wir Luxemburger die Frage stellen, ob wir uns genug mit ihrer Situation identifizieren.
Die Wirtschaftskrise und die eigene Angst um die Wahrung des sozialen Status – in dieser Angstmacherei kann uns auch so schnell niemand etwas vormachen – könnten unseren Blick für die Bedürftigen in unserer Mitte schärfen. Diese Situation könnte aber auch eine verstärkte Nabelschau zur Folge haben.
Es bleibt zu hoffen, dass unsere Gefühle und Ängste uns nicht zu größerem Egoismus verleiten, sondern zu mehr Solidarität führen.

sbremer@tageblatt.lu