Leitartikel: Besondere Verhältnisse

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Serge Kennerknecht

Es ist schon ein einmaliger Vorgang. Noch während, nein, eigentlich noch bevor die EU-Außenminister über eine gemeinsame Position zu Nahost diskutieren, veröffentlicht die israelische Tageszeitung Haaretz das zur Debatte stehende Dokument (wer es ihnen wohl hat zukommen lassen?), das zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich noch nicht einmal alle EU-Außenminister gelesen hatten. Und kaum sitzen dieselben in Brüssel zusammen, hagelt es bereits Proteste aus Israel. Konkret geht es darum, dass die europäischen Minister Ost-Jerusalem als Hauptstadt Palästinas bezeichnen wollten. Schließlich haben sie dann doch davon abgesehen. Da habe Deutschland nicht mitmachen können, hat der neue deutsche Außenminister Guido Westerwelle gestern im Anschluss an das Ministertreffen mitgeteilt. Das schulde man dem besonderen Verhältnis zwischen Deutschland und Israel.

Der gute Westerwelle. Er hat recht. Aber das mit dem besonderen Verhältnis gilt nicht nur für Deutschland. Es gilt für ganz Europa. Denn die Millionen Menschen jüdischen Glaubens, die in den Konzentrationslagern der Nazischergen umgebracht wurden, lebten nicht alle nur in Deutschland. Viele kamen aus anderen europäischen Ländern. Oft mit deren Komplizität. Das schaffte nach dem Krieg ein besonderes Verhältnis zwischen den Europäern und Israel. Ebenso wie die Tatsache, dass viele – wenn auch nicht genug – Menschen jüdischen Glaubens dem Holocaust entkommen konnten, weil andere Menschen in Europa sie versteckten. Auch das ist wichtig.

Europa soll schweigend zuschauen?

Auf dieser Grundlage fußt die europäische Unterstützung für Israel. Die Europäer sind für einen israelischen Staat, in dem die Menschen sicher und frei leben können.
Muss dieses besondere Verhältnis nun bedeuten, dass Europa zu allem Ja und Amen sagt, was Israel tut? Muss der europäische Beitrag zu einer Lösung in Nahost etwa in der Haltung des litauischen Außenministers Vygaudas Uackas gipfeln, der gestern meinte, man könne doch nicht Ost-Jerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates bezeichnen, angesichts der Reaktion aus Israel?

Muss man zusammenzucken, wenn Israel darauf verweist, dass eine Lösung für Ost-Jerusalem nur in Verhandlungen gefunden werden könne? Wer denn, wenn nicht Israel, hat Jerusalem annektiert und zur unteilbaren Stadt erklärt? Wer, wenn nicht Israel, hat somit den Friedensverhandlungen seit langem vorgegriffen, die
jetzt als Argument gegen die europäische Haltung herhalten müssen?

Muss man gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn ein israelischer Sprecher meint, eigentlich seien ja die Palästinenser schuld, wenn nicht mehr verhandelt werde? Wer denn, wenn nicht der israelische Premierminister Netanjahu, hat mit einem Siedlungsstopp, der keiner ist und der Ost-Jerusalem ausdrücklich nicht einbezieht, dafür gesorgt, dass die Palästinenser nicht weiter verhandeln, weil sie Ost-Jerusalem eben in diesen Stopp einbeziehen möchten? Duckmäusertum gegenüber allen israelischen Meinungen als Ausdruck eines besonderen Verhältnisses zu Israel? Das kann es wohl nicht sein.

Ein solches Verhältnis zwischen Menschen und Ländern zeichnete sich vielmehr dadurch aus, dass man dem anderen klar sagen kann, was man meint. Und daher hatte der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn recht, und nicht Westerwelle und nicht Vygaudas Uackas. Asselborn sprach klare Worte und verlangte klare Worte.
Die Israelis, die so gerne auf besondere Verhältnisse hinweisen, wenn es um ihre Rechte geht, vergessen zudem ein anderes besonderes Verhältnis, das die Europäer nach dem Krieg entwickelt haben. Das zu den Rechten von anderen Menschen. Europa hat gelernt, dass man nicht zuschauen darf, wenn Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Volke missachtet werden.

Das jedoch gilt nicht nur für Israel, das gilt für alle. Auch für die Palästinenser.
Deren Rechte werden von Israel zurzeit mit Füßen getreten, deren Kinder werden sämtlicher Perspektiven beraubt, deren Anspruch auf einen eigenen Staat wird durch eine, das palästinensische Territorium in Fetzen zerreißende israelische Siedlungspolitik zunichte gemacht. Vor den Augen der Welt. Und wir Europäer sollen nun auf einmal erneut schweigend zuschauen, weil das den Israelis genehm wäre? So wie es uns in der Vergangenheit in anderem Zusammenhang vorgeworfen wurde? Nein, wir hätten aus unserer Geschichte nichts gelernt.

Ja zu Israel, aber auch Ja zu Palästina, lautet die europäische Haltung. Wir wissen warum.