Klingt sexy, ist aber Augenwischerei

Klingt sexy, ist aber Augenwischerei
(Tageblatt/Alain Rischard/editpress)

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Brexit, Ungarn, Farc: Die Referenden sind wieder in aller Munde. Die oft dramatischen Konsequenzen der Volksentscheide sind offensichtlich. Segen oder Fluch? Die Debatte.

Es herrscht Hochkonjunktur für Referenden. Mehr Bürgerbeteiligung klingt sexy, Politikverdrossenheit ernsthaft bekämpfen weniger. Leider unterläuft der Referendumsprozess die repräsentative Demokratie.

Dass sich die direkte Variante bei uns nicht durchsetzen konnte, hat deshalb zwei Vorteile: die in Luxemburg gelebte indirekte Demokratie ist ein Korrektiv gegen Demagogen und emotionale Verführbarkeit.

Romantische Rhetorik

Bei aller romantischen Rhetorik in Sachen direkte Demokratie: die von der Politik initiierten und meist von ihr instrumentalisierten Referenden spielen mit der Stimmung der Bürger. Sogar die Schweiz mit ihrer ausgereiften Referendumskultur ist immer noch ein eindeutig repräsentatives System, das nur in Einzelfällen auf die Volksabstimmung zurückgreift.

Was passieren würde, stünden Referenden in jedem Staat quasi auf der Tagesordnung, zeigte sich nach dem gescheiterten Militär-Putsch in der Türkei. Lange erarbeitete demokratische Errungenschaften, „acquis communautaire“ im EU-Sprech, wie etwa die Abschaffung der Todesstrafe, stehen auf einmal wieder zur Debatte.

EU-Beitritt ade, die Henker zurück

Wäre die Türkei der Stimme des Volkes gefolgt, hätte sie sich einen EU-Beitritt in den nächsten beiden Jahrzehnten endgültig abschminken und ihre Henker wieder einstellen können. Und genau hierin liegt eines der größten Probleme, mit dem wir weltweit konfrontiert sind: Politik wird zunehmend auf einer emotionalen Ebene betrieben und gelebt.

Es mag attraktiv klingen, den Bürgern mehr Beteiligung zu versprechen, indem sie sich zu unterschiedlichen Fragen äußern können. Doch selbst im „Marienland Lëtzebuerg“, das eigentlich für seine fast apathische, konsensorientierte Politik bekannt ist, war das jüngste Referendum vor allem eins: ein Denkzettel, um Dampf abzulassen.

Mitwirkungsmöglichkeit? Denkste.

Wer jedoch bei derart ernsten und komplexen Fragen wie dem Ausländerwahlrecht auf eine binäre Ja-/Nein-Logik zurückgreift, zerstört das so oft vermisste demokratische Fundament. Besonders zynisch: Die Mitwirkungsmöglichkeit der Bürger wird durch Referenden nicht gestärkt, sondern eliminiert.

Denn transparent ist die Genese der Frage- und Antwortvorgaben nicht, der Einfluss auf den Entstehungsprozess quasi inexistent. „Checks and Balances“ werden bei Referenden zudem neutralisiert, streng regulierte, parlamentarische Entscheidungsprozesse durch oft stumpfe und Lügen verbreitende Kampagnenpolitik ersetzt.

Gefühl der Hilflosigkeit

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Referenden Bürgern das Gefühl der Hilflosigkeit ein wenig nehmen. Es ändert sich jedoch nichts an den Spielregeln: Nur wohlinformierte Bürger gehen Referendumsgegnern oder -befürwortern nicht auf den Leim.

Allerdings haben viele Menschen im Alltag nicht die nötige Zeit, um die Konsequenzen eines Referendums einzuschätzen. Ungarn ist ein schönes Gegenbeispiel. Doch gerade hier stellt sich die Frage: Was sollte das Ganze?

Schwarz-Weiß-Politik

Der Rückgriff auf die Schwarz-Weiß-Politik spaltet hochkomplexe Gesellschaften und gibt die Illusion der demokratischen Teilhabe. Politische Kompromisse gefallen niemandem, sind unsexy, aber immer noch das Fundament sozialer Kohäsion echter Demokratien.