Fünfter Brief aus Brüssel

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Es ist Montag, der 8. Juni 2015. Premierminister Bettel bekam soeben Post aus Brüssel.

Das versiegelte Couvert enthält die wirtschaftspolitischen Empfehlungen, welche die Brüsseler Kommission im Rahmen ihrer Prozedur zur Budgetüberwachung an Luxemburg richtet.

Alvin Sold asold@tageblatt.lu

In den letzten vier Jahren hatte Barroso den Druck auf die Regierung trotz aller Austeritätsmaßnahmen aufrechterhalten: Wir hätten weiter gehen sollen, den Index in schnellen Schritten abschaffen oder irgendwie neutralisieren, das Pensionsalter kräftig erhöhen, die Staatsschuld abbauen und das Haushaltsdefizit mit einer drastischen Kürzung der öffentlichen Ausgaben eliminieren usw., usf.

Nun, im Fünften Brief wird wohl dasselbe stehen, sagt Bettel. Gramegna und Schneider, Finanz- bzw. Wirtschaftsminister, nicken. Man kennt die Brüsseler ja; am liebsten würden sie befehlen statt nur empfehlen, aber die totale Bevormundung lassen wir uns nicht bieten, nicht wahr? – Also Xavier, was schreibt Juncker? Schauen wir doch!

Die drei Herren stehen eng nebeneinander über das erste Blatt mit den einleitenden Worten des Barroso-Nachfolgers gebückt. Juncker hatte die Partie brillant gespielt im Juni 2014: Seine in der EVP vereinte Parteienfamilie war trotz massiver Verluste die stärkste geblieben, vor den Sozialisten und Sozialdemokraten, und die Staats- und Regierungschefs mussten ihn ernennen oder das Risiko des institutionellen Streits mit dem Parlament eingehen. Cameron schäumte vor Wut und die ausgetrickste Merkel schlüpfte in ihre schlechteste Rolle, jene der Sponsorin des Luxemburgers, der, kaum im Berlaymont, dort selbstsicher auftrat und sich weder von der Kanzlerin noch vom Prime Minister oder von Monsieur le Président reinreden ließ.

„Dat gëtt et dach net!“, flüstert Gramegna. Bettel und Schneider sind ausnahmsweise sprachlos. Da steht, tatsächlich, schwarz auf weiß, dass die Kommissionsexperten nach ausgiebiger Prüfung der makroökonomischen Fakten und Projektionen zum Schluss gelangten, dass die den Mitgliedstaaten empfohlene Austeritätspolitik das potenzielle Wachstum untergrub, die Verarmung und die Arbeitslosigkeit förderte und das Vertrauen in die Union zutiefst erschütterte.

Aufgrund der neuen, betonfest untermauerten Studien und genauestens erfasster Zustände sei er, Juncker, mit seiner Kommission, die das alleinige Vorschlagsrecht für gesetzgeberische Initiativen besitze, überzeugt, dass die Einzelstaaten erhebliche Mittel zur Förderung der lahmen Wirtschaft und zur Absicherung der Sozialsysteme einsetzen sollten. Die Union sei groß und stark genug, um ein sozialmarktwirtschaftliches Modell anzustreben.

Der in der EU geschaffene Mehrwert werde höchst ungerecht verteilt; die Deregulierung der Märkte und die Zügellosigkeit der nach maximalem Profit strebenden Unternehmen verlangten nun nach grundlegenden Reformen.

Zu diesen gehörten, europaweit, erklärt Juncker, ein Mindestlohn, von dem man menschenwürdig leben könne, eine korrekte Alters- und Krankenversicherung, eine regelmäßige Anpassung der Löhne und Renten an die Inflation, ein freier und kostenloser Zugang der Studenten zu den Universitäten, eine systematische Unterstützung der öffentlichen und privaten Forschung. Damit nicht genug, betont Präsident Juncker: Es werde den Staaten gestattet, die Auslagerung von rentablen Betrieben in Billiglohnländer zu verbieten; das Mitspracherecht der Arbeitnehmer sei zu erweitern, insbesondere, aber nicht nur, bei multinational aufgestellten Konzernen, und und und …

Die drei blicken sich an. Ist das sein Ernst?, fragt Bettel. Ich glaube schon, sagt Schneider, denn er behauptete immer, keiner würde ihn links überholen. Vielleicht kann er sich so was vorstellen, schmunzelt Gramegna, aber die Börsen und die Märkte werden nicht mitspielen. Und die kriegt er nicht in den Griff. Nie!

Ein Ablenkungsmanöver

Lieber Leser, das denken Sie wahrscheinlich auch. In den vergangenen Jahrzehnten manövrierte sich die große Politik in die Machtlosigkeit hinein, indem sie das Primat an die Wirtschaft übergab. Präsident Juncker wird am 8. Juni 2015 nicht viel anders reden und schreiben als Präsident Barroso am 2. Juni 2014.

Und deshalb die Frage: Was soll der gegenwärtige, die EU-Institutionen degradierende Zank um die Nominierung des Kommissionspräsidenten? Ablenken von der Tatsache, dass die katastrophale EU-Politik auf Kosten der Allgemeinheit und zugunsten privater Interessen einfach weitergeführt wird?

Nach Barroso halt von Juncker?

(Alvin Sold)