Und das Publikum? Es hört gebannt zu, ist ergriffen, erkennt sich wieder in den einsamen Seelen auf der Bühne, die ihrem Umfeld und sich selbst gegenüber fremd geworden sind und das Gefühl haben, nicht sie leben ihr Leben, sondern ihr Leben lebt sie.
" class="infobox_img" />Janina Strötgen [email protected]
Entfremdung, dieser unweigerlich mit Karl Marx in Verbindung stehende Begriff, er beschreibt auch heute noch und gerade verstärkt wieder ein unsere Gesellschaft kennzeichnendes Phänomen. Weder die Existenzialisten, die in der persönlichen (Camus) oder in der gemeinschaftlichen (Sartre) Revolte einen Weg sahen, sich die Welt anzueignen, noch die Subjektkritik eines Derrida oder Foucault vermochten es, den Begriff der Entfremdung zu entleeren. Ganz im Gegenteil. Auch wenn es der modernen Welt- und Selbstauffassung eigentlich widerspricht, die Theaterbesucher waren gerade deshalb so stark berührt, weil sie sich eben nicht als ihr Leben autonom gestaltende Individuen erfahren, sondern sich der Dynamik übergeordneter Zwangskonstellationen und Machtverhältnisse ausgeliefert fühlen.
Ohnmacht der Politik
Da ist natürlich die Banken-Finanz-Eurokrise, die als großes Entfremdungsgeschehen schlechthin zu deuten ist: Alle stehen davor, keiner hat es gewollt, niemand hat die Kontrolle. Es scheint, als seien wir dazu gezwungen, uns unserem Schicksal zu fügen und zu akzeptieren, dass es zur Herrschaft der Finanzmärkte nun mal keine Alternative gibt. Anstatt frei von temporären Mächten und Zwängen über gesellschaftliche Rahmenbedingungen nachzudenken und dem Bürger Wahlmöglichkeiten zu bieten, predigt die Politik immer und immer wieder diese Alternativlosigkeit („Wir müssen die Märkte beruhigen!“).
Diese Gestaltungsohnmacht der uns Regierenden entfremdet uns natürlich zwangsläufig auch von der Politik an sich. Politik, die nicht von der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfen geprägt ist, bleibt für öffentliche Leidenschaft unfähig. Und ist unser Weltbezug leidenschaftslos, so entfremden wir uns gezwungenermaßen auch von uns selbst. In der Arbeit nehmen wir uns nur noch als ein Rädchen im System war, in Liebe und Freundschaft werden wir unfähig zur Empathie und Hingabe. „Entfremdung ist, wenn nichts leuchtet, wenn uns nichts ergreift und wenn uns nichts auf den Grund setzen kann“, so der Soziologe Heinz Bude.
Doch was hilft gegen das Gefühl der Entfremdung? Sicher nicht die vielen Ratgeber zum Glück, die sich gerade jetzt zur Weihnachtszeit wieder auf den Eingangstischen in den Buchhandlungen türmen und raten, man solle viel joggen und lachen, wenig Fleisch und viel Schokolade essen, sich in Gelassenheit üben, viel Zeit mit der Familie verbringen oder auch an Gott glauben.
Und die Kunst? Adorno hat in seiner ästhetischen Theorie den Gedanken entwickelt, dass es ohne Entfremdung überhaupt keine Kunst gäbe. Gleichzeitig spricht er der Kunst aber jegliche Macht ab, in die Empirie eingreifen und uns von dem Gefühl der Entfremdung befreien zu können. Doch sieht er auch gerade in dieser Nutzlosigkeit die lebensrettende Kraft der Kunst. Befreit von der Empirie lässt sie uns nicht nur das Gefühl der Entfremdung aushalten, sondern protestiert, indem sie immer wieder neue Entwürfe des Besseren, des Wahren und des Schönen imaginiert. Dadurch kann sie der Realität entgegenwirken und uns helfen, nicht bei Ödön von Horváths Phrase „Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu“ hängen zu bleiben. In diesem Sinne, frohe Weihnachten!
De Maart
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