StandpunktWird der Ukraine-Krieg die Verbreitung nuklearer Waffen anheizen?

Standpunkt / Wird der Ukraine-Krieg die Verbreitung nuklearer Waffen anheizen?
 Foto: AFP

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, erbte die Ukraine einen Teil ihres Atomwaffenarsenals. 1994 erklärte sich die Ukraine jedoch bereit, diese Waffen an Russland zurückzugeben. Im Gegenzug erhielt die Ukraine „Zusicherungen“, dass ihre Souveränität und ihre Grenzen respektiert werden würden. Russland hat dieses Versprechen mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 schamlos gebrochen. Viele Beobachter sind zu dem Schluss gekommen, dass die Ukraine einen verhängnisvollen Fehler begangen hat, als sie zustimmte, ihr Atomwaffenarsenal (einst das drittgrößte der Welt) aufzugeben. Haben sie recht?

* Zum Autor

Joseph S. Nye, Jr. ist Professor an der Harvard University und ehemaliger stellvertretender US-Verteidigungsminister. Sein Buch „Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump“ erschien 2020 bei Oxford University Press.

Anfang der 1960er-Jahre sagte US-Präsident John F. Kennedy voraus, dass im nächsten Jahrzehnt mindestens 25 Staaten über Atomwaffen verfügen würden. Doch 1968 einigten sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf einen Nichtverbreitungsvertrag, der den Besitz von Atomwaffen auf die fünf Staaten beschränkte, die bereits über Atomwaffen verfügten (die USA, die Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China). Heute verfügen nur noch neun Staaten über Atomwaffen – die fünf in dem Vertrag genannten Unterzeichnerstaaten sowie Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea. Dennoch ziehen weitere „Schwellenstaaten“ (Länder, die technologisch in der Lage sind, schnell Atomwaffen zu bauen) diese Option in Betracht.

Einige Analysten meinen, dass die Verbreitung von Atomwaffen eine gute Sache sein könnte, da eine Welt mit atomar bewaffneten Stachelschweinen stabiler wäre als eine Welt mit atomaren Wölfen und unbewaffneten Kaninchen. Ihrer Ansicht nach hätte Russland es nicht gewagt, in eine atomar bewaffnete Ukraine einzufallen. Darüber hinaus stellen sie die Frage, warum einige Staaten ein Recht auf Atomwaffen haben sollten und andere nicht.

Andere wiederum setzen sich für die Abschaffung aller Atomwaffen ein, ein Ziel, das im UN-Vertrag von 2017 über das Verbot von Atomwaffen verankert ist, der 2021 in Kraft trat. Er hat derzeit 86 Unterzeichner und 66 Parteien (allerdings hat keiner der neun Staaten mit Atomwaffen unterzeichnet).

Lohnenswertes Ziel

Skeptiker dieses Ansatzes argumentieren, dass die Abschaffung von Atomwaffen zwar ein lohnenswertes langfristiges Ziel sei, dass aber Bemühungen, dieses Ziel zu schnell zu erreichen, die Instabilität und die Wahrscheinlichkeit von Konflikten erhöhen könnten. Die eigentliche ethische Herausforderung sei nicht die Existenz von Atomwaffen, sondern die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes. Es wäre vielleicht besser, wenn die Menschheit in den 1930er-Jahren nicht gelernt hätte, sich die Kraft eines gespaltenen Atoms zunutze zu machen; da dieses Wissen jedoch nicht abgeschafft werden kann, wäre es besser, sich darauf zu konzentrieren, die Risiken seines Einsatzes in der Kriegsführung zu verringern.

Angenommen, Sie leben in einer Nachbarschaft, in der es ständig zu verheerenden Einbrüchen und Überfällen kommt. Eines Tages beschließen einige Ihrer Nachbarn, ihre Häuser mit massiven Sprengsätzen und Stolperdrähten auszustatten und Warnschilder aufzustellen, um Eindringlinge abzuschrecken. Das Problem dabei ist, dass auch Ihr Haus beschädigt wird, wenn diese Vorrichtungen eingesetzt werden. Aber auch der Versuch, das System kurzfristig zu entschärfen, birgt erhebliche Gefahren.

Was würden Sie tun? Sie könnten Ihre Nachbarn auffordern, das System nur zur Abwehr von Eindringlingen und nicht zur Bedrohung anderer zu verwenden. Sie könnten sie ermutigen, Vorrichtungen zur Verringerung des Unfallrisikos zu installieren, und eine Entschädigung für das Risiko verlangen, das sie Ihnen auferlegen, indem sie Ihr Haus unter ihren Schutzschild aufnehmen. Und Sie könnten sie davon überzeugen, das System irgendwann in der Zukunft, wenn relativ sichere Mittel gefunden werden können, zu demontieren.

Dies sind (grob vereinfacht) die Bedingungen, die im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) von 1968 verankert sind, und das ist der Grund, warum der russische Einmarsch in der Ukraine so schädlich ist. Russland hat nicht nur seine ausdrückliche Sicherheitsgarantie gemäß dem Budapester Memorandum verletzt, sondern auch eine nukleare Eskalation angedeutet, um andere davon abzuhalten, der Ukraine zu Hilfe zu kommen. Damit schwächt es das Tabu, Atomwaffen als normale Kriegswaffen zu behandeln – eine Konvention, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Thomas Schelling als die wichtigste globale Norm seit 1945 bezeichnete.

Es wäre jedoch ein Fehler, den Schaden, den die Invasion in der Ukraine dem Nichtverbreitungsregime zugefügt hat, zu übertreiben. Wer glaubt, dass die Invasion andere Staaten lehren wird, dass sie sicherer wären, wenn sie Atomwaffen besäßen, vereinfacht die Geschichte zu sehr. Man kann nicht davon ausgehen, dass nichts passiert wäre, wenn die Ukraine ihre Atomwaffen aus der Sowjetzeit behalten hätte.

Durch die Kristallkugel

Schließlich gibt es solche Waffen nicht gebrauchsfertig „von der Stange“. Das spaltbare Material in den sowjetischen Langstreckenraketen, die in der Ukraine stationiert waren, hätte entfernt, wiederaufbereitet und umfunktioniert werden müssen. Das hätte nicht nur Zeit und Fachwissen gekostet, sondern auch die Intervention Russlands beschleunigt. Wenn sich Staaten der nuklearen Schwelle nähern, gelangen sie in ein „Tal der Verwundbarkeit“, das ihre Sicherheit verringern und die allgemeine Instabilität erhöhen kann. Selbst wenn in einer Region eine stabile Abschreckung vorstellbar ist, kann der Versuch, von hier nach dort zu gelangen, höchst riskant sein.

Einige Theoretiker argumentieren, dass – so wie Atomwaffen die Großmächte zur Vorsicht mahnten, indem sie ihnen eine „Kristallkugel“ in die Hand gaben, mit der sie die verheerenden Folgen eines Atomkriegs vorhersehen konnten – die Verbreitung von Atomwaffen in ähnlicher Weise Stabilität unter kleineren regionalen Rivalen schaffen würde. Nukleare Stachelschweine würden sich wie Kaninchen verhalten, nicht wie Wölfe.

Aber nicht alle Regionen sind hinsichtlich des Eskalationsrisikos gleich, und man kann nicht davon ausgehen, dass alle Staats- und Regierungschefs die Weisheit besitzen, ihre Kristallkugel zu benutzen. Die Regionen unterscheiden sich in Bezug auf die Anzahl der Bürgerkriege und gestürzten Regierungen, die zivile Kontrolle des Militärs, die Sicherheit der Kommunikation und die Waffenkontrollprotokolle. Wenn sich die Verbreitung von Kernwaffen auf solche Staaten ausdehnt und sich damit das Risiko eines Einsatzes erhöht – und sei es auch nur versehentlich –, werden diese Staaten und ihre Nachbarn im „Tal der Verwundbarkeit“ noch unsicherer werden.

Letztendlich steigt mit der Verbreitung von Atomwaffen die Wahrscheinlichkeit eines unbeabsichtigten oder versehentlichen Einsatzes, die Bewältigung potenzieller nuklearer Krisen wird komplizierter und die Einführung von Kontrollen, die eines Tages dazu beitragen könnten, die Rolle von Atomwaffen in der Weltpolitik zu verringern, wird schwieriger.

Kurz: Je mehr vermeintliche Verteidigungswaffen sich ausbreiten, desto höher ist das Risiko, die ganze Nachbarschaft in die Luft zu jagen. Die eigentliche Lehre aus Russlands Krieg in der Ukraine ist, dass wir den bestehenden Atomwaffensperrvertrag stärken und von Maßnahmen Abstand nehmen müssen, die ihn aushöhlen.


Übersetzung: Andreas Hubig / © Project Syndicate, 2022