Ein überparteiliches Wahlprogramm in Hashtags

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Die Briten haben über den Brexit abgestimmt, die Niederlande und Frankreich haben gewählt, Österreich und Deutschland stehen vor der Wahl. Gleichzeitig rückt der Jahrestag eines ökonomisch äußerst bedeutsamen Ereignisses, nicht nur für die Bundesrepublik, immer näher: Die Freiburger Denkschrift wird 2018 75 Jahre alt. Sie wurde 1943 im Auftrag Dietrich Bonhoeffers in Vorbereitung einer Nachkriegswirtschaftsordnung für Deutschland (!) von einem kleinen Kreis Freiburger Professoren verfasst.

Die Anlage 4 zur Wirtschafts- und Sozialordnung sollte die Blaupause für das werden, was als Soziale Marktwirtschaft eine Erfolgsgeschichte wurde. Zeit also für ein überparteiliches Wahlprogramm für Europa in Hashtags, welches das „Neuland“ mit den bewährten Prinzipien der Marktwirtschaft über die nächsten vier Jahre hinaus vermisst.

Privateigentum, Wettbewerb, freie Preisbildung, stabiles Geld, das Verantwortungsprinzip und ein starker Staat, der die Spielregeln aufstellt und deren Einhaltung überprüft, gehören dabei zu den Ecksteinen. Daraus lassen sich fünf Handlungsfeldern „Subsidiarität stärken“, „Globalisierung fördern“, „Teilhabe sichern“ und „Fairnet gestalten“, Geldwertstabilität erhalten für ein überparteiliches „Wahlprogramm“ ableiten:

#Subsidiarität stärken: Während sich die EU zwischen Selbstfindung und Donald Trump bewegt, ist es an der Zeit, die Subsidiarität wieder zu entdecken. Der Grundgedanke des aus der katholischen Soziallehre stammenden Begriffs der „Subsidiarität“ ist, dass Aufgaben auf der Ebene gelöst werden, die sie auch am besten lösen kann, wo also das meiste Wissen und die stärksten Anreize zur Lösung vorliegen. Auf der jeweils nächst höheren politischen Ebene werden dann jene Aufgaben gelöst, die auf den unteren Ebenen nicht gelöst werden können. Sind z.B. Wirtschafts- und Sozialpolitik eine EU-weite oder eine nationale Aufgabe? Wie können z.B. die besten Entscheidungen für öffentliche Investitionen und Strukturförderung getroffen werden? Wer hat die Informationen und die Anreize zur Kontrolle der Maßnahmen? Ist die Verteidigung national oder EU-weit sinnvoller? Wie können die militärischen Kräfte am besten gebündelt werden? Das wären Fragestellungen zur Subsidiarität.

#Globalisierung fördern: Wettbewerb ist nicht nur „das genialste Entmachtungsinstrument“ (Franz Böhm), das die niedrigsten Preise und den effizientesten Umgang mit knappen Ressourcen sichert, sondern auch ein Entdeckungsverfahren für Innovationen. Kurzum: Wettbewerb ist der Treiber des Wohlstands. Globalisierung benötigt aber einen Ordnungsrahmen, der die Fairness des Wettbewerbs sichert und für den sozialen Ausgleich zwischen Gewinnern und Verlierern auf der individuellen Ebene sorgt. Es geht um gerechte Teilhabe an den Früchten des Erfolgs.

#Teilhabe sichern: Wer gerechte Teilhabe will, muss die Beteiligung an den Chancen wie an den Risiken wollen. Bloße Umverteilung unterdrückt Leistungsanreize, während die Risikoprämie nur jene erwarten können, die auch bereit sind, Risiken einzugehen. Dabei ist gerade die Risikoprämie ein wichtiger Erklärungsfaktor von Ungleichheit. Wer also weniger Ungleichheit will, muss die Beteiligung an der Risikoprämie in der Breite fördern. Es geht aber nicht nur um die Verteilung der Vermögen, sondern auch um das Verhältnis von Arbeits- zu Kapitaleinkommen. Sollten die Maschinen tatsächlich die Arbeitsplätze übernehmen, würden die Roboter für die Kapitaleigner arbeiten. Arbeitseinkommen würde durch Kapitaleinkommen ersetzt.

Teilhabe muss aber auch vor dem Hintergrund der Netzökonomie diskutiert werden. Es geht um ein „Fairnet“ – ein faires Internet:

#Fairnet gestalten: Die Netzökonomie ist gekennzeichnet von Informationen, die unendliche Skalenerträgen ermöglichen und damit ein natürliches Monopolgut sind. Information kann grenzenlos und ohne zusätzliche Kosten von unbegrenzt vielen Menschen und Institutionen genutzt werden. Monopolgüter aber führen zu Monopolisten und Monopolisten nutzen ihre Marktmacht, um den Wettbewerb zu verzerren. Deshalb bedarf es eines „starken Staats“, der diesem „Laissez-Faire-Informationskapitalismus“, wie Walter Eucken ihn wohl nennen würde, Spielregeln vorgibt und einen funktionierenden Wettbewerb sicherstellt bzw. wiederherstellt. Wichtigster Grundsatz, auf dem die Spielregeln für ein Fairnet im Sinne der Nutzer beruhen, muss der Grundsatz der Datenhoheit sein.

Die Daten gehören den Nutzern, nicht den Plattformen. Entsprechend bestimmen die Nutzer, wie und ob diese Daten erhoben, gespeichert, ausgewertet oder mit anderen Datensätzen verbunden werden. Zur Datenhoheit tritt die Transparenz. Die Digitalisierung fördert zwar die Informationsverbreitung, erlaubt durch die unterschiedlichen Anwendungen jedoch, dass es z.B. zu Preisdiskriminierung kommt. Nicht jeder zahlt für das gleiche Produkt, das er im Internet bestellt, zwangsläufig auch den gleichen Preis. Shlomo Benartzi und Lerner zeigen z.B., dass die Applikation, mittels derer etwas bestellt wird, zu unterschiedlichen Preisen führen kann. Je kleiner der Bildschirm (Smartphone), desto höher der Preis. Fairness und Wettbewerb sehen anders aus. Fairness nützt Informationsasymmetrien nicht aus. Wettbewerb schließt Preisdiskriminierung aus.

#Geldwertstabilität: Was aber wären Privateigentum und Wettbewerb ohne stabiles Geld? Bei der aktuellen Preisentwicklung in der Eurozone und den großen Industriestaaten mag dies kaum ein Thema sein, es muss aber im Kontext der Geldpolitik gesehen werden, die weiterhin im Krisenmodus verharrt. Negativzinsen und Anleihekaufprogramme verzerren den Preis des Geldes und fördern die Fehlallokation von Kapital. Wer Fehlinvestitionen und negative Verteilungswirkungen vermeiden will, muss sich dafür einsetzen, dass sich die Geldpolitik wieder auf ihr Primärziel, die Geldwertstabilität konzentriert, gerade damit die Zentralbank unabhängig bleibt.

Die Folgen der Euro-Schuldenkrise, ausstehende realökonomische Anpassungen und Staatsschulden, die fern der Grenzen von Maastricht sind, müssen von der Politik, nicht von den Zentralbanken gelöst werden. Was in der Geldpolitik unserer Tage übersehen wird, ist die Unmöglichkeit, diese Zielkonflikte aufzulösen. Mehrere Ziele können nicht mit einem Instrument gelöst werden. Darauf hat vor allem Jan Tinbergen hingewiesen.

Ob Verteilungs- oder Globalisierungsdebatte ob EU-Reform, Netzökonomie oder Geldpolitik – die „Freiburger“ haben uns auch 75 Jahre nach Verfassen ihrer Denkschrift für Europa heute noch einiges zu sagen und das über Wahltage hinaus.

  • Hans-Jörg Naumer ist Global Head of Capital Markets & Thematic Research, Allianz Global Investors.