Das Haus Europa? Zum Postengeschacher in der EU

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„Die Menschen sind eigentlich nicht unbeständig oder sind es nur in kleinen Dingen; sie wechseln ihre Kleider, ihre Sprache, das gesellschaftliche Gehabe; sie ändern bisweilen auch ihren Geschmack: aber sie bewahren ihre ewig schlechten Sitten, beharrlich und beständig im Übel und in der Nichtachtung der Tugend.“ Jean de La Bruyère (1645-1696), bedeutender Vertreter der französischen Moralisten und Aphoristiker

Von Frank Bertemes

Nichts entwertet das Bekenntnis zu Werten so schnell und so brutal wie Opportunismus, Doppelmoral und das Unterlaufen eigener Prinzipien. Prinzipien – sofern überhaupt vorhanden, versteht sich. Das interessierte vereinigte europäische Wahlvolk hatte sich anlässlich der rezenten EU-Wahlen, die von diversen Seiten als so ziemlich die wichtigsten dieser Art angekündigt wurden, nämlich so einiges an Verbesserungen für das wackelige europäische Haus Europa erwartet – naiverweise, wie man nun leider wieder einmal erkennen muss.

Nichts hat sich verändert, im Gegenteil. Absolute Priorität: Posten! Der Kampf um Posten und Pöstchen wurde zum totalen Trauerspiel für all jene, die ihr Wahlverhalten tatsächlich noch an „Spitzenkandidaten“ orientierten und die ob der in dieser Hinsicht eigentlich vorgesehenen Personen gewisse politische Richtungsvorgaben ausmachen wollten. Doch im Sinne des einleitenden Zitates muss man wieder einmal feststellen: „(…) sie bewahren ihre ewig schlechten Sitten, beharrlich und beständig im Übel und in der Nichtachtung der Tugend.“

Die Kür des Spitzenkandidaten als Kommissionspräsident an die Spitze des Hauses Europa? Ausgefallen – definitiv! Denn es kam anders – sehr viel anders, wie wir jetzt alle wissen. „Es gibt eine Art von leerem Geschwätz, dem man durch Neuigkeit des Ausdrucks und unerwartete Metaphern das Ansehen von Fülle gibt.“ So Georg Christoph Lichtenberg, ein Statement, das man im Falle der unerwarteten „Lösung“ des scheinbar unlösbaren Kompromisses um die Person des nächsten Kommissionspräsidenten ob des Geschwafels und des Schönredens einer mehr als fragwürdigen diesbezüglichen Entscheidung in diverser Hinsicht einsetzen kann – wahrlich eine Spezialität der gescheiten Person Lichtenberg! Doch das soll die Leserschaft zur eigenen Meinungsbildung motivieren … Und das ohne im Rahmen dieses Beitrags weiter auf dieses eigentlich doch traurige Kapitel der Spitzenpostenbesetzung der EU einzugehen, ein weiteres dieser Art übrigens. Nein, es geht nicht um diese Personalie, sondern vielmehr, und wie im Titel schon angedeutet, um das europäische Haus, das weiterhin wackelt – andere sagen gar, dass es brennt!

Es wackelt

Es geht besonders um die Fragestellung, weshalb dieses europäische Haus eigentlich weiter zu wackeln droht. Und auch in dieser Hinsicht wäre es leider naiv, voreilig Entwarnung zu geben – im Gegenteil! Auch wenn man uns in Bälde mit Sicherheit wieder einmal (siehe Lichtenberg: „leeres Geschwätz“ –„Neuigkeit des Ausdrucks“) vom Gegenteil überzeugen will, so kommt man im Kontext der eigentlichen Fragestellung um den wackligen Zustand des Hauses Europa, sprich der EU insgesamt, nicht daran vorbei, sich mit den Konstruktionsfehlern dieses heutigen, sich in einem mehr als bedenklichen Zustand befindenden europäischen Hauses zu beschäftigen.

Die renommierte deutsche überregionale Wochenzeitung Die Zeit , die übrigens seit dem Jahre 1946 erscheint, stellte sich jedenfalls die deutliche Frage nach dem „Quo vadis Europa“ und das eben auch im Sinne dieses Beitrags: „Die EU gilt als das größte Friedensprojekt der Geschichte. Seit Jahrzehnten sorgen sie und ihre Vorgängerorganisationen für Zusammenarbeit und Völkerverständigung in Europa; Grenzen fielen, Handelsnetze entwickelten sich, Staaten und Menschen wuchsen zusammen. Doch inzwischen wackelt das europäische Haus: Das Vertrauen der Bürger in die Europäische Union schwindet zusehends, der Euro wackelt, Wirtschaftskrisen erschüttern einzelne Mitgliedsstaaten, andere driften nach rechts und stellen demokratische Errungenschaften infrage. Die Flüchtlingskrise sorgt für Zwist, 2016 stimmte das britische Volk zum Entsetzen Europas für den Brexit, den Austritt aus der Union, die USA sind kein verlässlicher Partner mehr. Die EU taumelt von einer Krise in die nächste, so scheint es, ohne Energie und ohne Selbstbewusstsein.“

In diesen Zusammenhang muss man sich eigentlich schon einmal mit der rein „administrativen“ Organisation der EU Fragen stellen, die in der Tat für uns oft unwissendes Wahlvolk (und das ist kein Vorwurf an uns selber, mitnichten!) schon an sich so manche Verständnisprobleme aufwirft. Da spricht man von gleich drei fast namensgleichen Räten: dem Europarat, dem Europäischen Rat und dem Rat der Europäischen Union. Was soll das eigentlich? Soll man uns Wahlvolk schon ob dieser Namenskonfusion verwirren? Mit welchem Ziel? Wer hat denn nun welche Kompetenzen? Natürlich findet der interessierte Europäer die entsprechenden Antworten auf die (fragwürdige) Vielfalt dieser „Räte“ in der entsprechenden Dokumentation. Dieser Kompetenz-Wirrwarr geht allerdings mit den „fünf Präsidenten Europas“ weiter. Diese bisher durchweg männliche „Fünferbande“, die sich demnächst jedoch zumindest geschlechtsspezifisch ändern wird – ohne sich jedoch ob der von irgendeinem „Rat“ designierten Frau als zukünftige „Kommissionspräsidentin“ irgendeiner naiven Hoffnung auf tiefgreifende Veränderungen hinzugeben –, besteht aus dem jeweiligen „Chef“ (meint natürlich „Präsident“) der EU-Kommission (wie erwähnt), des EU-Rates, des EU-Parlaments, der Eurogruppe und der Europäischen Zentralbank – wobei auch Letztere in Zukunft von einer Präsidentin geleitet werden wird.

Wer soll da noch in diesem Durcheinander die vielen Gremien mitsamt ihrer sich überschneidenden Kompetenzen auseinanderhalten? Oder sich in dem EU-Behördendickicht und dem unendlich komplizierten Europarecht, das uns doch allen irgendwie verständlich zugänglich und nützlich sein soll, in der Tat noch zurechtfinden? Wen wundert es, dass sich die Bürger der EU ob dieses bürokratischen Gefilzes überfordert und gelangweilt abwenden?

Dann gibt es in diesem wackligen Gebäude Europa noch ein fundamentales Problem: die fehlende Gewaltenteilung, mit der man sich im Sinne einer funktionierenden Union als „Rechtsstaat“ auch gefälligst beschäftigen müsste. Wenn man sich die Chose nämlich einmal genauer ansieht, sollte es doch eigentlich so sein, dass, wie in jedem wahren Rechtsstaat üblich, die Legislative (sprich das Parlament) die Exekutive (die Kommission) kontrolliert und die Judikative (die Justiz) alle beide korrigiert.

Gaston Vogel

So lehrte es uns jedenfalls der französische Aufklärer Montesquieu, der auch von Maître Gaston Vogel in diesem Kontext der Gewaltenteilung in brandaktuellem Kontext bemüht wird. Das soll nämlich Machtkonzentration und Willkür bekämpfen, wie sie früher unter Europas absolutistischen Herrschern Alltag waren. Doch wird der EU von Experten vorgeworfen, sich eben nicht an diese altehrwürdige Tradition zu halten und somit gegen die selbstgesetzten demokratischen Normen, von denen man allerdings so gern vollmundig tönt, zu verstoßen – des (in diesem Fall administrativen) Trauerspiels nächster Akt!

Die Akteure in Kurzform: Das EU-Parlament, die europäische Legislative also, soll in unserem Namen Gesetze erlassen, den Haushalt und die Kommission kontrollieren – hat aber kein Initiativrecht bei Gesetzesverfahren, darf die Kommission insgesamt nicht wählen, sondern nur bestätigen. Obwohl es zu den weltgrößten Parlamenten zählt, handelt es sich doch um ein seltsames Zweite-Klasse-Parlament, das von der Kommission, also der EU-Regierung, faktisch bevormundet wird. Diese Kommission hat nämlich kurioserweise das Initiativrecht für Gesetze inne und verwaltet den Haushalt – arbeitet also als Exekutive und als Legislative! Das gibt’s doch wohl nicht – und dieser (Zu-) Satz ist ein persönlicher Kommentar – dass die neoliberale EU-Kommission in dem Sinne als Lakai der Konzerne und ihrer Lobbys mittels Erlass von Richtlinien und Rechtsakten agieren darf, grenzt schon an etwas, nur (und damit zurück zu den Fakten) es kommt noch besser: Sie mahnt Mitgliedsstaaten bei Verstößen gegen EU-Recht ab und verhängt Strafgelder, arbeitet also zusätzlich als Judikative!

Dann noch der „Europäische Rat“ und der „Ministerrat“, sehr intransparente Gebilde, die in Montesquieus Modell der Gewaltenteilung im Sinne der Grundidee dieses Beitrags gar nicht mal vorkommen. Das alles sagt schon so einiges zum Thema „Demokratieverständnis“ innerhalb des Hauses Europa, das dementsprechend bereits im Fundament auf wackligen Beinen steht, aus – doch das alles wissen die allermeisten von uns eben (wohlweislich) nicht!

Im Klartext gesagt und halten wir mal fest: Wir haben in Europa ein Parlament, das nur eine halbe Legislative ist und gleich zwei Exekutiven, meint die EU-Kommission und den EU-Ministerrat, die teilweise als Legislative und Judikative fungieren, und leisten uns darüber hinaus dann noch eine Art „Super-Exekutive“, nämlich den Europäischen Rat der nationalen Regierungschefs. Toll! Verwirrender geht es kaum noch! In der EU, so kritische Stimmen, ist die Gewaltenteilung wahrlich aufgehoben! Von den diversen Geldern und Spesen, die man sich in diesen unübersichtlichen diversen Gremien so verteilt, redet man natürlich auch nicht!

Es geht schlussfolgernd darum, dass die von uns, dem eigentlichen „Europäischen Souverän“, sprich dem Wahlvolk Europas, gewählten EU-Parlamentarier/-innen uns allen Klarheit in diesem Dickicht verschaffen sollen.
Deshalb haben wir euch gewählt, bitte sehr!

Und dass dieses Haus Europa wackelt, wundert wahrlich niemanden mehr!
Denn: „Eine ewige Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt.“
Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (De l’esprit des lois), XI, 4

Le républicain zu London
23. Juli 2019 - 12.54

Madame Lagarde die ja auch einen feinen Posten jetzt kriegt, wurde vom Staatsgerichtshof in Frankreich, wegen "négligence" verurteilt in ihrer Eigenschaft als ehemalige Finanzministerin, also wenn das die Empfehlung ist für die EZB zu leiten, dann stehen uns noch schöne Zeiten bevor....

Jemp
21. Juli 2019 - 2.23

Valérie Giscard d'Estain, ein markantes Beispiel in jeder Hinsicht! Solange Typen mit solch einer Vergangenheit hofiert werden, nehme ich an keiner Wahl teil! Strafen brauch man ja nicht zu befürchten. Damit ist es wie mit allem in der Politik, alles leeres Gerede!

Jacques Zeyen
20. Juli 2019 - 11.20

....und ab einer gewissen Position wird man unantastbar. Was machen sie heute,die Berlusconis,die Sarcos,die Chiracs und ...die "Bommeleeërs". Was riskiert man wenn ein dezenter Rücktritt das Schlimmste ist was einem passieren kann. Seit den "Gilets Jaunes" wissen wir,dass Parlamentarier oft überhaupt nicht wissen was draußen auf der Straße los ist. Will man es überhaupt wissen? Das ist noch weit weg von Volksvertretung.