StandpunktChance vertan ‒ der Westen lässt die Krise ungenutzt

Standpunkt / Chance vertan ‒ der Westen lässt die Krise ungenutzt
Aktivisten verschiedener Initiativen malen vor dem ehemaligen EZB-Gebäude in der Innenstadt von Frankfurt ein riesiges Murat auf den Asphalt. Das 300 Quadratmeter große Bild trägt den Schriftzug „Stop funding fossil fuels“ und richtet sich gegen die Klimapolitik. Foto: dpa/Boris Roessler

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Der Silberstreif in der dunklen Wolke der Pandemie war die Gelegenheit, die sich dem Westen bot, sich zu bessern. Im Jahr 2020 gab es einige Lichtblicke. Die Europäische Union war gezwungen, über eine Fiskalunion nachzudenken. Dann trug sie dazu bei, Donald Trump aus dem Weißen Haus zu entfernen. Und ein globaler grüner New Deal, eine umweltfreundliche Modernisierung als Weg aus der Krise, erschien plötzlich weniger weit hergeholt. Dann kam das Jahr 2021 und zog die Verdunkelungsvorhänge zu.

Letzte Woche hat die Europäische Zentralbank in ihrem Finanzstabilitätsbericht eine besorgniserregende Warnung ausgesprochen: Europa sieht einer schuldenfinanzierten Immobilienblase entgegen, die sich verselbständigt hat. Bemerkenswert an dem Bericht ist, dass die EZB weiß, wer die Blase verursacht: die EZB selbst, durch ihre Politik der quantitativen Lockerung (Quantitative Easing, QE) – ein höflicher Ausdruck für Geldschöpfung im Namen von Banken. Das ist so, als würde Ihr Arzt Sie darauf hinweisen, dass die von ihm verschriebene Medizin Sie möglicherweise umbringen wird.

Das Erschreckende daran ist, dass die EZB keine Schuld daran trägt. Die offizielle Entschuldigung für QE lautet, dass es nach dem Absenken der Leitzinssätze auf unter null keine andere Möglichkeit mehr gab, der in Europa drohenden Deflation zu begegnen. Das verborgene Motiv hinter der quantitativen Lockerung bestand allerdings darin, die untragbare Schuldenlast großer defizitärer Unternehmen und vor allem wichtiger Mitgliedsstaaten der Eurozone (wie Italien) umzustrukturieren.

Nachdem sich die politischen Entscheidungsträger Europas zu Beginn der Eurokrise vor zehn Jahren entschieden hatten, die massive, nicht tragbare Schuldenlast immer noch nicht wahrhaben zu wollen, kamen sie nicht umhin, dieses heiße Eisen in den Schoß der Zentralbank fallen zu lassen. Seitdem hat die EZB eine Strategie verfolgt, die sich am besten als ständige Verschleierung des Bankrotts beschreiben lässt.

Eurobonds-Idee lebt wieder auf

Wochen nach dem Ausbruch der Pandemie forderten der französische Präsident Emmanuel Macron und acht weitere Regierungschefs der Eurozone eine Umstrukturierung der Schulden durch echte Eurobonds. Angesichts der neuen Schulden, die die Pandemie verursacht, schlugen sie im Wesentlichen vor, dass ein beträchtlicher Teil der wachsenden Last, die unsere Staaten (ohne Unterstützung der EZB) nicht tragen können, auf die breiteren, schuldenfreien Schultern der EU verlagert werden sollte. Dies wäre nicht nur ein erster Schritt in Richtung einer politischen Union und verstärkter gesamteuropäischer Investitionen, sondern würde zudem die EZB davon befreien, einen Schuldenberg umstrukturieren zu müssen, den die EU-Mitgliedstaaten niemals zurückzahlen können.

Doch es hat leider nicht sein sollen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der Idee kurzerhand eine Absage erteilt und stattdessen eine Aufbau- und Resilienzfazilität angeboten, die ein miserabler Ersatz ist. Sie ist nicht nur makroökonomisch unbedeutend, sondern macht die Aussicht auf ein föderales Europa für ärmere niederländische und deutsche Wähler noch unattraktiver (indem sie sie verschuldet, damit die Oligarchen in Italien und Griechenland hohe Zuschüsse erhalten können). Und obwohl gemeinsame Anleihen ein Element sind, wird der Aufbaufonds nichts zur Umstrukturierung der unbezahlbaren Schulden beitragen, die die EZB immer wieder umstrukturiert hat – und die durch die Pandemie vervielfacht wurden.

Die EZB übt sich also weiterhin in der ständigen Verschleierung des Bankrotts, obwohl ihre Funktionäre zweierlei befürchten: für die gefährliche Schuldenblase, die sie immer größer werden lassen, zur Rechenschaft gezogen zu werden und ihre offizielle Begründung für QE zu verlieren, wenn sich die Inflation über ihrem Zielwert stabilisiert.

Keine Solidarität

Auf der jüngsten Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP26) in Glasgow wurde das Ausmaß der Chance deutlich, die Europa verpasst hat. Wie können die Staats- und Regierungschefs der EU den Rest der Welt über erneuerbare Energien belehren, wenn das reiche Deutschland Braunkohlekraftwerke baut, Frankreich die Atomenergie verdoppelt und jeder andere EU-Mitgliedstaat, der mit unbezahlbaren Schulden belastet ist, bei der Bewältigung des grünen Wandels sich selbst überlassen bleibt?

Die Pandemie hat Europa die Möglichkeit gegeben, einen glaubwürdigen Plan für eine gut abgesicherte grüne Energieunion zu entwickeln. Mit der Einführung von Eurobonds und der damit verbundenen Befreiung aus dem Fegefeuer der ewigen Konkursverschleierung könnte die EZB nur noch die Anleihen unterstützen, die die Europäische Investitionsbank zur Finanzierung einer grünen Energieunion ausgibt. Ja, Europa hat seine Chance vertan, der Welt mit gutem Beispiel voranzugehen und sich von seiner Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu lösen.

Wir Europäer waren natürlich nicht die Einzigen. Als US-Präsident Joe Biden in Glasgow landete, sorgte die gewohnt gewissenlose Kongresspolitik in seiner Heimat für die Trennung seiner ohnehin schon stark geschrumpften grünen Agenda von einem sehr braunen Infrastrukturgesetz, und schob den Klimawandel damit auf die lange Bank. Während die Vereinigten Staaten im Gegensatz zur Eurozone wenigstens ein Finanzministerium haben, das mit seiner Notenbank zusammenarbeitet, um die Schulden auf einem tragfähigen Niveau zu halten, haben auch sie eine großartige Gelegenheit verpasst, in großem Umfang in grüne Energie und in die hochwertigen Arbeitsplätze zu investieren, die der Übergang von fossilen Brennstoffen zu grüner Energie mit sich bringt. Wie kann der Westen erwarten, den Rest der Welt von ehrgeizigen Klimaverpflichtungen zu überzeugen, wenn Biden und die Europäer nach zwei Jahren der Lobeshymnen auf den grünen Wandel mit praktisch leeren Händen in Glasgow ankommen?

Panik des Westens

Während sich das Jahr 2021 dem Ende neigt, konzentrieren sich die westlichen Regierungen lieber auf übertriebene Sorgen, nachdem sie ihre Chance vertan haben, etwas gegen den offenkundigen und gegenwärtigen Klimanotstand zu unternehmen. Eine davon ist die Inflation. Die Beschleunigung des Preiswachstums muss zwar eingedämmt werden, aber die weit verbreiteten Vergleiche mit der Stagflation der 1970er-Jahre sind lächerlich. Für die USA, die das Bretton-Woods-System aktiv zusammenbrechen ließen, um das „exorbitante Privileg“ des Dollars aufrechtzuerhalten, war die Inflation damals unverzichtbar. Heute ist die Inflation nicht zweckmäßig für die amerikanische Hegemonie, sondern ein Nebeneffekt der Abhängigkeit der US-Wirtschaft vom wachsenden Finanzmarkt-Kapitalismus, der 2008 implodierte.

Die andere konstruierte Panik des Westens ist China. Der vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump initiierte und von Biden eifrig fortgeführte neue Kalte Krieg verfolgt einen uneingestandenen Zweck: Er soll es der Wall Street und Big Tech ermöglichen, Chinas Finanz- und Technologiesektor zu übernehmen. Aus Angst vor Chinas Fortschritten, wie einer funktionierenden digitalen Zentralbankwährung und einer makroökonomischen Strategie, die weitaus ausgefeilter ist als ihre eigene, entscheiden sich die USA und die EU für eine aggressive Haltung, die eine sinnlose Bedrohung für den Frieden und die globale Zusammenarbeit darstellt, die zur Stabilisierung des Klimas auf unserem Planeten erforderlich ist.

Ein Jahr, das hoffnungsvoll begann, endet düster. Die politischen Eliten des Westens, die nicht in der Lage (und vielleicht auch nicht willens) sind, eine tödliche Krise in eine lebenserhaltende Chance zu verwandeln, haben allein sich selbst die Schuld zuzuschreiben.

*Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister, ist Vorsitzender der Partei MeRA25 und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Athen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

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