Fernes Unglück

Fernes Unglück

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„Il semble que le sentiment de l’humanité s’évapore et s’affaiblisse en s’étendant sur toute la terre, et que nous ne saurions être touchés des calamités de la Tartarie ou du Japon, comme de celles d’un peuple européen“, schrieb Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert.

Hat sich die menschliche Fähigkeit zum Mitgefühl heute, fast 300 Jahre später, in unserer medial globalisierten Welt verändert? Auf den ersten Blick scheint es so. Von Rousseau damals beliebig als Beispiel-Land gewählt, hat die japanische Tragödie nun die ganze Welt erschüttert. Die mediale Bilderflut bringt die fernen Katastrophen – Erdbeben, Tsunami, drohender Atom-GAU – live in unsere Wohnzimmer.

Janina Strötgen
jstroetgen@tageblatt.lu

Doch was uns bewegt, sind nicht in erster Linie die steigenden Zahlen von Toten und Obdachlosen, sondern der direkte Bezug zu uns selbst – durch die Identifikationsmöglichkeit mit Personen. Statistiken allein lösen keine Empathie aus. Mitgefühl erwecken die erschütternden Bilder von einzelnen Menschen in ihrer Not. Und natürlich ist es vor allem die Frage nach den unabsehbaren Konsequenzen einer atomaren Katastrophe für uns selbst, die uns beschäftigt. Deshalb klicken wir ständig auf die Live-Ticker im Internet. Was ist denn nun mit Reaktor 3? Können wir jetzt noch asiatischen Fisch essen? Könnte eine solche Katastrophe auch in Europa passieren? Was? Radioaktive Spuren über Luxemburg?

Switching channels

Rousseaus Satz ist zeitlos. Er beschreibt ein zutiefst menschliches Verhalten. Das nahe Unglück, sei es noch so klein, beschäftigt uns mehr als das ferne, sei es noch so groß. Wie Adam Smiths „Mann in London“, der von einem Erdbeben in China erfährt, das das gesamte Reich verschlungen hat und der sich nach anfänglicher Bestürzung über diese unvorstellbare Katastrophe brennende Sorgen um eine Entzündung an seinem kleinen Finger macht. Sie bereitet ihm schlaflose Nächte, nicht China. Der Finger könnte abfallen …

In diesem Widerspruch leben wir: Hier das vage, philanthropische Bedauern über den Tod von Tausenden, dort die brennende Angst um unseren kleinen Finger.

Mitgefühl für fernes Unglück verpufft nun mal schnell, die Unmittelbarkeit der Fernsehbilder weckt kurzfristig unser Mitleid und unsere Bestürzung, passiert jedoch nichts Neues, sind wir schnell gelangweilt. „Images shown on television are by definition images of which, sooner or later, one tires“, schreibt Susan Sontag in ihrem Essay „Regarding the Pain of Others“. Selbst der drohende Super-GAU in Japan scheint nach Tagen der Anspannung nicht mehr als allabendlicher Cliffhanger zu funktionieren.

Denn hinzu kommt die Ablenkung. Plötzlich Krieg in Libyen. Mit der Beteiligung europäischer Streitkräfte. Da rückt Japan natürlich etwas in den Hintergrund. Wir müssen abwechseln zwischen den Live-Tickern. Fukushima – Gaddafi. Gaddafi – Fukushima. „The whole point of television is that one can switch channels, that it is normal to switch channels“ (Sontag).

Wie ist die Situation eigentlich in Haiti, ein Jahr nach dem weltweit verheerendsten Beben des 21. Jahrhunderts? Oder in Pakistan? Unsere Aufmerksamkeitsspanne ist kurz und ein Jahr ist eine mediale Ewigkeit. Wir schalten um, gehen zum Fußball über. „Lisbonne est abîmée et l’on danse à Paris“ (Voltaire). Weit weg ist schnell vergessen. Das ist menschlich. Allzu menschlich.

Tragisch aber ist, dass selbst in der Politik immer weniger das Bemühen um globale Verantwortung zu spüren ist. Statt nach Maximen einer „Fernethik“ (Hans Jonas) zu handeln, schauen immer weniger Politiker über ihren eigenen Tellerrand. Ihnen geht es meist nicht um Verantwortung im ethischen Sinne, sondern um ihre Ämter. Sie hecheln den aktuellen Themen sprunghaft hinterher und versuchen, die mediale Aufmerksamkeitsspanne rasch für ihre eigene Popularität zu nutzen. Ein Blick auf die Wahlkampfrhetorik in Deutschland und Frankreich genügt.