Die Brutstätten

Die Brutstätten
(Reuters/Yves Herman)

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Kein Frieden ohne soziale Gerechtigkeit

Es gibt keine Entschuldigungen für die terroristische Barbarei, es gibt aber sehr wohl Erklärungen dafür, dass junge Männer (aber auch einige Frauen) der totalen seelischen wie moralischen Verrohung anheimfallen.

Francis Wagner fwagner@tageblatt.lu

Und einer der wichtigsten Faktoren in dieser Entwicklung ist die soziale Ausgrenzung. In Frankreich verfügen selbst Kleinstädte wie das gleich neben Rodange gelegene Longwy über Gettos oder gettoähnliche Sozialsiedlungen, in denen das Gesetz der Republik nur eingeschränkt Geltung hat. In Belgien sind es Viertel wie das nunmehr berühmt-berüchtigte Molenbeek.

In die HLM-Betonburgen und Unterklassenviertel werden jene Teile der Gesellschaft abgeschoben, für die das Land in der Praxis (entgegen allen anders lautenden Sonntagsreden) keine Verwendung hat. Wer hier aufwächst, hat oft nur eine reelle Chance, nämlich jene, dass sein Leben qua Geburt im Eimer ist.

Durch den umfassenden Mangel an Arbeitsplätzen für gering oder gar nicht Qualifizierte entstehen ganze Divisionen von de facto Überflüssigen, denen man in ihrem Alltag an allen Ecken und Enden zu verstehen gibt, dass man sie am liebsten los wäre.
Und was sind derlei Gettos anderes als ein Versuch, diese Menschen nach dem Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ endzulagern? Hinzu kommt dann noch das Phänomen der Autosegregation, der fatalen Tendenz sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen, sich ihrerseits von der als feindlich empfundenen Außenwelt abzuschneiden.

Und selbst junge Menschen aus den Problemvierteln, die einen „Lycée“-Abschluss erringen und einen Beruf erlernen, müssen nur allzu oft die Erfahrung machen, dass allein schon ihr Name oder ihre Gesichtszüge, die in einem Bewerbungsschreiben verraten, dass sie „d’origine“ sind, dafür sorgen, dass etliche Patrons sich lieber einen Tripper zuziehen würden, als jemanden mit diesem sozialen Hintergrund einzustellen.

Das Leben in den Gettos ist von Demütigungen begleitet, vom täglichen Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein. Viele junge Männer versuchen, dieser Situation durch eine Karriere als Kleingangster zu entkommen, was die meisten von ihnen aber viel eher in den Knast oder auf den Friedhof anstatt zu einem Leben im Luxus bringt.

Und dann gibt es da einige wenige, die glauben, dass man es, wenn schon nicht zu Reichtum, dann aber doch zu Ruhm bringen kann, indem man im Namen eines Gottes, von dem man kaum eine Ahnung hat, möglichst viele von jenen abschlachtet, die in den „dekadenten“ Stadtzentren Freude am Leben haben und alles das tun, was ihnen, den Underdogs, verwehrt bleibt.

Frust, religiöser Obskurantismus und eine primitive Kultur des Machismo ergeben hier ein besonders letales Gebräu, welches die tagtägliche Erfahrung der Ausgrenzung in brutale Mordlust münden lassen kann.

Wie gesagt, für die Barbarei der Schlächter von Paris gibt es keine Entschuldigung, doch muss man sich bewusst sein, dass soziale Ungerechtigkeit im Verein mit ethnischer Diskriminierung ein idealer Nährboden für die Verwandlung von Menschen in Monster ist.
Monster, die demnach die Demokratie am eigenen Busen nährt.