Die Stimme der Unterdrückten

Die Stimme der Unterdrückten
(dpa)

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In was für einer Welt leben wir eigentlich? Atzen dissen Schwule und Lesben, East- und Westcoast verherrlichen Gewalt, protzen mit billigem Glamour, behandeln Frauen wie unersättliche Massenware und zwingen sie wortwörtlich in die Knie.

Das Ganze können wir getrost tagaus, tagein auf unseren heimischen Bildschirmen verfolgen. MTV und VIVA strahlen es aus, ohne dass es einer besonderen Erklärung bedarf. Der „Frauenarzt“ vergewaltigt, andere verüben ein Kettensägenmassaker.
Laden jedoch Rammstein zur feuchtfröhlichen und unverbindlichen Orgie ein oder skizzieren The Prodigy die Trostlosigkeit und den Rausch eines Toxikomanen, ziehen Jugendschützer die Notbremse und schlagen Alarm. Die Störenfriede werden kurzerhand aus sämtlichen frei zugänglichen Video-Portalen verbannt. Die oben genannten Hassprediger aber kommen ungeschoren davon.
Sie verbreiten sich wie ein Lauffeuer, manipulieren und verführen. Es grenzt schon an ein Wunder, wenn beispielsweise eine Kulturfabrik Capleton aus dem Terminkalender streicht, weil er aufgrund homophober Aussagen („Das Feuer möge den Schwulen verbrennen!“) mit dem Rücken zur Wand steht. Anhänger des Reggae-Stars wollten es nicht wahrhaben und gingen auf die Barrikaden. Doch die Konzertveranstalter ließen sich nicht beirren und folgten dem Aufruf acht weiterer europäischer Kulturzentren, dem selbst ernannten Propheten den Zutritt in ihr Haus zu verwehren. „Sieg der Gerechtigkeit“ schrieben sie sich auf die Fahne, die manch einer gerne in Flammen aufgehen gesehen hätte.

Emile Hengen ehengen@tageblatt.lu (Bild: Tageblatt/Pierre Matge)

Am losen Zügel?

Musik und Zensur: Seit dem Abendland gehen beide Hand in Hand, bewegen sich auf dünnem Eis und erregen immer wieder die Gemüter. Vor allem die der Politiker, wie jüngst der Fall „Michel Raison“ zeigt. Der UMP-Abgeordnete äußerte die Forderung, dass im französischen Kulturministerium den Songtexten von Rap-Musikern aus dem Einwanderermilieu mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diese würden unter der „schützenden Decke der Meinungsfreiheit zum Hass aufrufen“. Das Ministerium möge sich doch Maßnahmen überlegen, „um diese Lieder zu zensieren“ und die Verbreitung bestimmter musikalischer Werke besser zu kontrollieren. Von allen Seiten hagelte es Kritik, dem französischen Politiker wurde Rechtspopulismus vorgeworfen und im weltweiten Netz wurde er als ausländerfeindlich gebrandmarkt.
Michel Raison versuchte einzulenken, entschuldigte sich in aller Öffentlichkeit für die „unglückliche Formulierung“ seiner parlamentarischen Anfrage: „La question n’est pas très bien rédigée. Elle va être reposée même sile fond va rester le même. Je suis un gaulliste social très ouvert et très antiraciste“, gaukelte er dem französischenOnline-Magazin Les Inrocks vor. Längst ist aber bekannt, dass Michel Raison auf der konservativen Linie seines Präsidenten liegt, der seinerseits abermals versuchte,jenen Lyrikern, die er als „Bande von Ausgerasteten“,als „voyous qui déshonorent la France“ bezeichnete,einen Maulkorb zu verpassen, weil sie in ihrer Tonkunst ihrem Ärger über die gescheiterte Integrationspolitik ihres „Zufluchtslandes“ Luft machen. Bis heute ohne jeglichen Erfolg.
Denn die Kunst findet immer einen Weg in die Öffentlichkeit. Und selbst wenn sich die staatliche Zensur vollzieht, lässt sich die Verbreitung der Botschaft des Unterdrückten nie und nimmer kontrollieren. Prominentes Beispiel: Ai Weiwei.