Die soziale Dimension

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Der Beifall blieb nicht aus.

Vom gegen die Islamisierung der Niederlande kämpfenden Geert Wilders über den umtriebigen Europaabgeordneten Nigel Farage – Vorsitzender der Anti-Immigrations-Partei in Großbritannien, der gegen die Einwanderung auch von EU-Bürgern aus Rumänien und Bulgarien in sein Land kämpft, unisono mit Premier David Cameron – bis hin zu Marine Le Pen, ebenfalls Europaabgeordnete und Vorsitzende des französischen „Front national“, unterstützt einmal mehr von der französischen konservativen Partei UMP, diesmal durch den früheren Premierminister François Fillon, ansonsten von dessen Kollegen François Copé, der Le Pen durch seine inoffizielle, unheilvolle Allianz mit den extremen Rechtskatholiken in Frankreich zündelnd das Terrain vorbereitet, in der Hoffnung, dass bei der Europawahl in 100 Tagen einige Wahlkrümel für ihn abfallen werden: Sie alle im Verein mit anderen Rechtspopulisten zeigten sich über das Ergebnis der Volksbefragung erfreut und hoffen, dass es ihren rechten Ideen Auftrieb geben wird.

Serge Kennerknecht skennerknecht@tageblatt.lu

Vielen Schweizern dürfte solche Zustimmung aus rassistischer und religiös motivierter Ecke eher unangenehm sein. Umso mehr als sie aus Ländern kommt, in denen die Schweiz fast täglich wegen ihres Finanzplatzes in der öffentlich geschürten Kritik steht. Im Verbund mit Brüssel und der OECD. Ein ständiges Bedrängen, das wahrscheinlich sein Übriges zum Ausgang der Befragung beigetragen haben dürfte.

Ängste entstehen durch Unsicherheit

Taugt das Schweizer Votum nun als Modell, wie es die rechte Ecke sehen möchte? Wohl kaum. Als Signal taugt die Abstimmung schon eher. Ein Signal für eine Art soziales Unwohlsein. Die Schweiz hat einen Ausländeranteil von 23%. Lediglich Luxemburg liegt höher, bei 38%. Und auch wenn die Schweiz mit einem so hohen Ausländeranteil sicher eine ganz andere Diskussion über Zuwanderung führt als andere Länder (Frankreich: 5,9%, Großbritannien: 8% Niederlande: 4,2%, um nur die zu nennen), so bleiben die Ängste dort die gleichen.

Der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit hat sicher recht, wenn er behauptet, ein solches Referendum hätte in Frankreich ein Ergebnis von 60% für eine Begrenzung der Zuwanderung gebracht. In manch anderen Ländern auch. Die Freizügigkeit der Bürger, einst als eine der europäischen Errungenschaften schlechthin bejubelt, wird paradoxerweise von eben diesen Bürgern inzwischen mit Argwohn betrachtet. Eine Entwicklung, auf die die Politik bislang kaum reagiert hat. Obwohl Rechtspopulisten immer mehr Zulauf erhielten und ein zunehmendes Unbehagen bei vielen Menschen immer offensichtlicher wurde, blickte sie stur nur auf die Lösung der Wirtschaftskrise und hielt dabei an der einseitigen Sparpolitik fest, die Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit trieb.

Die soziale Absicherung wird verwässert, Arbeitslosengeld wird auf ein Minimum reduziert, Renten werden zusammengestrichen, Bildungsausgaben radikal gekürzt, Löhne und Bezüge gesenkt. Immer mehr Menschen wurden zu Sozialfällen, immer mehr nahmen vieles in Kauf, nur um ihren Arbeitsplatz und ihren sozialen Standard annähernd halten zu können. Immer mehr suchten ihr Glück in anderen europäischen Ländern. Eine schlecht ausgearbeitete Entsenderichtlinie, für viele überhaupt die einzige Möglichkeit, eine Stelle zu finden, führte zu zusätzlichem Sozialdumping.

Ängste entstehen durch Unsicherheit. Sicherheit baut Ängste ab. Ganz besonders soziale Sicherheit. Doch eben diese wurde in vielen Ländern, allen Hinweisen und Protesten der europäischen Gewerkschaften zum Trotz, ein Opfer von Sparprogrammen, die, wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD am Dienstag in einem Bericht mit dem bezeichnenden Titel „post mortem“ anführte, auf falschen Annahmen beruhten und demnach auch falsch ausgerichtet sein mussten.

Die Erkenntnis kommt zu spät, die Malaise ist geschaffen. Rechtsextreme haben Aufwind. Hundert Tage vor der Europawahl fehlt Europa die soziale Dimension.