Die Opfer

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„Et ass wuel dee wichtegste Bréif a mengem Liewen, deen ech Iech hei schreiwen. Ech si 45 Joer al, wor vun 1975 bis 1984 zu Arel, ISMA, am Internat. Nodeems ech Ären Artikel vum 23.3.2010 'Physisch, psychisch und sexuell missbraucht' gelies hunn, si mir d’Tréine komm.

Ech kann alles, wat an Ärem Artikel steet, 100 Prozent konfirméieren. Ech wor vun 1986 bis 2000 schwéierst tablettenofhängeg, wor och psychiatresch hospitaliséiert a leiden haut ëmmer nach un deem Erlieften. Professionell … a privat sinn ech zwar gutt ukomm, dat eent schléisst dat anert halt net aus!“

Der Autor des Briefes ist der Redaktion bekannt, ebenso wie die Namen anderer Opfer von Missbrauch in katholischen Internaten im nahen belgischen Grenzgebiet. Das, was ein Vertreter der „Amicale des anciens“ des „Institut Sainte-Marie“ in Arlon als „secret de Polichinelle“ bezeichnete, offenbart sich immer stärker als unappetitliche Kultur in von Glaubensbrüdern geführten Schulinstituten, zumindest bis in die Achtziger des vorigen Jahrhunderts.

Die jetzt bekannt gewordenen Fälle von sexuellem Missbrauch in den USA, in Irland, in Deutschland usw., usf. bestätigen das massive, globale Ausmaß dieser Unkultur, die trotz besseren Wissens von der vatikanischen Hierarchie weiter heruntergespielt und als Ausrutscher Einzelner behandelt wird.

Die Luxemburger Kirche macht hier leider keine Ausnahme. Oder wie der Sprecher der Institution am Sonntag während einer Fernsehrunde meinte: Seit 1965 melden wir jeden Verdachtsfall an die Staatsanwaltschaft; allerdings gab es in dieser Periode keinen Verdachtsfall …

Doch die Probleme der Kirche sind offensichtlich genug: Die Institution, die sich selbst als moralische Instanz sieht, verspielt zurzeit den letzten Kredit, den sie nach 2.000 Jahren Frauenfeindlichkeit, Intoleranz, Machtdenken, wirtschaftlicher Gier, Opportunismus … noch hat.
Die Opfer scheinen uns wichtiger als die Täter.

Die Büchse der Pandora

Nachdem wir ein Gespräch mit einem missbrauchten ehemaligen Schüler des ISMA veröffentlicht hatten (vergl. Tageblatt vom vorigen Mittwoch), war die Büchse der Pandora offensichtlich nicht mehr zu schließen.

Täglich melden sich seit diesem Bericht Männer bei uns, die jahrzehntelang geschwiegen und gelitten hatten. Nach außen führten sie ein mehr oder weniger normales Leben, machten beruflich Karriere, manche heirateten. Der Prozess ist in der Traumatologie bekannt. Das Erlebte wird verdrängt; manchmal bis zu einem Punkt, an dem die Betroffenen sich der Realität des Erlebten nicht mehr sicher sind bzw. es komplett verdrängen.

In diesem Sinne ist der Mut des ersten Opfers, das sich überwand und mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit ging, doppelt zu bewundern. Er „befreite“ sich von einer Last und gab somit vielen anderen die Gelegenheit zur Aufarbeitung ihrer Biografie. Es ist kaum vorstellbar, wie schwierig es ist, jahrzehntelang mit einer versteckten, nicht aufgearbeiteten Missbrauchsgeschichte zu überleben: Einige scheiterten und nahmen sich das Leben, andere wurden selbst zu Tätern, viele flüchteten in Alkohol oder Medikamente.

Nichts ist mehr selbstverständlich, wenn die Opfer sich der Vergangenheit stellen: Selbst die eigene Sexualität wird infrage gestellt. Der Schaden an der Psyche ist gewaltig.

Einige der Betroffenen wollen sich nun in einer Vereinigung zusammenschließen, was ebenfalls a priori keine Selbstverständlichkeit ist. Voraussetzung ist der Mut zu einem weiteren Schritt an die Öffentlichkeit, sie müssen die Schutzmauern einreißen und sich längst verdrängten Gefühlen stellen. Oft wissen dabei selbst engste Familienangehörige nichts von den Erlebnissen.

Dies ist der Preis, um die Auswirkungen des Traumas durch sexuellen Missbrauch zu bekämpfen, die da lauten „Ohnmachts-, Minderwertigkeits- und Entfremdungsgefühle, soziale Isolation, ausgeprägte Affekt- und Impulsstörungen, hochgradige Beziehungsstörungen mit Rückzugstendenzen, höhere Kränkbarkeit“ (aus Bahrke, Ulrich, Rosendahl, Wolfram (Ed.), Psychotraumatologie und Katathym-Imaginative Psychotherapie. Lengerich: Pabst, 2001).

Leider ist nach einem Missbrauch die Alternative zu der (psychologisch begleiteten) Auseinandersetzung mit dem Erlebten und dem eigenen Ich ein Leben mit einer gespielten, aufgesetzten Persönlichkeit.

Die Täter haben es da vergleichsweise leichter.

Robert Schneider
rschneider@tageblatt.lu