Das wahre Leben

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Es gibt kein Transportmittel, das, auf den Passagierkilometer berechnet, sicherer wäre als das Linienflugzeug (die Bahn ist indes auf die Passagierstunde berechnet sicherer).

Man kann es immer nur wiederholen: Es ist ungleich gefährlicher, mit dem Auto zum Findel zu fahren, als anschließend einen Flieger zu besteigen.

Francis Wagner fwagner@tageblatt.lu

Dennoch scheinen sich in der Luftfahrtindustrie besorgniserregende Fehlentwicklungen abzuzeichnen. Die Tatsache, dass bei der Pilotenausbildung immer mehr Gewicht auf den Simulator und immer weniger auf praktisch erworbene Erfahrung gelegt wird, scheint – wenn man Flight International, der ältesten Luftfahrtzeitschrift der Welt, Glauben schenken darf – eine der Hauptursachen einer Reihe rezenter Unglücke zu sein, allen voran des Air-France-Flugs AF447 2009 von Rio nach Paris, bei dem es mittlerweile sicher scheint, dass die Piloten durch die Auswirkungen einer in keiner Weise extremen Wettersituation plötzlich heillos überfordert waren und ihr Flugzeug in einen unbeherrschbaren „Stall“ (Strömungsabriss) geraten ließen.

Auch beim rezenten Crash einer TransAsia-Maschine in Taiwan scheint dieser Zeitschrift zufolge ein elementarer handwerklicher Fehler schnurstracks in die Katastrophe geführt zu haben: Offenbar haben die Piloten, nachdem ein Triebwerk ernste Probleme bereitete, die einwandfrei funktionierende Propellerturbine anstatt des schadhaften Aggregats abgeschaltet (ein Fehler, der ebenfalls am Ursprung des tödlichen British-Midland-Crashs 1989 in London stand).

Derlei Unfälle, so Veteranen der Branche, beweisen, dass man praktische Routine unter Aufsicht erfahrener Kollegen eben nur teilweise durch Simulatorenübungen ersetzen kann.

Der Autor dieser Zeilen hat selbst im (zugegebenermaßen relativ unkomplizierten) Trambahnsimulator erlebt, dass man tatsächlich geschehene „incidents et accidents“ zwar problemlos 1:1 „nachbauen“ kann, dass diese Apparate die Realität aber trotzdem nur unvollständig nachbilden können. Dies, weil der Prüfling nach dem ersten „Unfall“ mit einer solchen nervenzehrenden Konzentration auf den nächsten Zwischenfall lauert, dass einerseits zwar weiterer „shit happening“ zum Großteil auf glimpfliche Art und Weise bewältigt werden kann, andererseits dieser mentale Energieaufwand in der realen Praxis nur in höchst eingeschränktem Maße replizierbar ist.

Man hat den Eindruck, dass in der Luftfahrtindustrie, gerade in Zeiten, da das Publikum nach Flügen billig wie Dreck verlangt, die ganz gewöhnliche kapitalistische Profitgier gefährliche Blüten treibt.

Praktische Erfahrung ist zwar unersetzlich, sie ist aber auch teuer. Also versucht man, sie durch billigere Alternativen zu … ersetzen.

Simulatoren, da besteht kein Zweifel, können enorm nützlich sein. Ihnen kommt zu Recht eine wichtige Rolle bei der Ausbildung von Piloten oder anderen Fahrzeugführern zu. Dennoch ist der Simulatorjockey in letzter Konsequenz immer nur eine Art Sesselfurzer. Pardon: Hightech-Sesselfurzer. Das wahre Leben findet aber immer noch da draußen statt. Und das wahre fliegerische Können kann man letztendlich nur in langen Stunden in der Luft erwerben.