Architektur und Referendum

Architektur und Referendum

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Architektur ist eine Kunst, in der, wie in allen anderen Künsten auch, vom Genie bis zum Stümper alle Sorten von Menschen zugange sind. Architektur sorgt, und das ist einer der Faktoren, die das Fach so interessant machen, regelmäßig richtig schön ordentlich für Zoff.

Francis Wagner
fwagner@tageblatt.lu

Stichwort Stuttgart 21: Prinzipiell ist es von Vorteil, wenn der Kopfbahnhof einer Großstadt in einen Durchgangsbahnhof umgewandelt wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist Brüssel, dessen ehemaligen Kopfbahnhöfe (Luxembourg, Nord & Midi) seit 1952 durch einen Tunnel miteinander verbunden sind, was den Bahnverkehr in der ganzen Region drastisch vereinfacht und verbessert hat.

In Städten wie Paris oder London hingegen war dies bislang nicht möglich und wird es wohl niemals mehr sein, weshalb der Transit von einem Kopfbahnhof zum anderen (etwa von Est nach Montparnasse oder von St Pancras nach Euston) mit Taxi oder Metro zurückgelegt werden muss, was mit Gepäck gerade zur Rushhour recht stressig und ermüdend sein kann. Nun ist natürlich auch der Bau eines Durchgangsbahnhofs kein Selbstzweck: In Stuttgart besteht der begründete Verdacht, dass die neue Anlage trotz ihrer enormen Kosten und der tiefgreifenden Eingriffe in Stadtbild und Natur den in Zukunft zu erwartenden Verkehr nicht auf zufriedenstellende Weise wird bewältigen können.

Runter von den Bäumen

Andererseits wirft S-21 aber ein anderes Problem auf: Inwiefern ist es sinnvoll, städtebauliche Veränderungen der Zustimmung durch Volksabstimmungen zu unterwerfen? In der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung hat Gert Kähler am vergangenen Samstag daran erinnert, dass die Weltstadt Paris, wie wir sie heute kennen, nur dadurch entstehen konnte, weil Georges Eugène Haussmann im Auftrag von Napoleon II. das mittelalterliche Paris dem Erdboden gleichmachte und seine Visionen, deren Verwirklichung die Schaffung einer der wenigen echten Metropolen dieser Erde zur Folge hatte, durchsetzte, ohne auch nur im Traum daran zu denken, das Volk um seine Meinung zu fragen.

Um es mal deutlich zu formulieren: Würde man architektonische Neuerungen grundsätzlich dem Verdikt etwa der anonymen Brunzköpfe, wie sie hauptsächlich auf rtl.lu ihr Unwesen treiben, unterwerfen, würde die Menschheit heute noch auf den Bäumen sitzen. Dabei ist die vox populi längst nicht immer zur Stelle, wenn man sie mal braucht: Als in den Siebzigerjahren ff. die prächtigen Bürgervillen am Boulevard Royal plattgemacht wurden, um sie durch Bürokästen zu ersetzen, deren „Architektur“ selbst einer Frittenbude zur Schande gereicht hätte, regte sich im Wesentlichen … nichts.

Kathedrale, Palais, Arbed und Sparkasse blieben stehen, also wühlte das Wüten der Vandalen das Gesunde Volksempfinden nicht allzusehr auf.

Dabei war, um dies klar zu machen, auch der Boulevard Royal nicht für die Ewigkeit bestimmt: Für die Verwirklichung gelungener Projekte wie z.B. dem Gebäude der „Banque de Luxembourg“ soll der Bulldozer ruhig mal durch das alte „Gelëmps“ hindurchbrettern dürfen.

Städte sollten idealerweise lebendige Organismen und keine musealen Gefängnisse sein.

Aber: Was erhalten, was niederreißen? Gute Frage. Patentrezepte gibt es dafür nicht. Idealerweise sollten hierüber engagierte und informierte Citoyens mit Verve streiten.

Der konservativ-bornierte Furor des für die real existierende Demokratie typischen, egoistischen „Wutbürgers“ (cf. den interessanten Aufsatz von Dirk Kurbjuweit im Spiegel dieser Woche), Nimbys oder Forenprolls hingegen droht auf Dauer die meisten Formen echter städtebaulicher Kreativität in der bleiernen Umarmung seiner ewiggrauen Fantasielosigkeit unerbittlich zu „ermëlzen“.