Ahnungslosigkeit

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„People are crazy and times have changed“, sang Bob Dylan am Freitagabend in der Rockhal. Sein Konzert enttäuschte, doch allein für diesen Satz hätte er mindestens den Literaturnobelpreis verdient.

„Schreibe den wahrsten Satz, den du weißt“, hat Hemingway allen, die wirklich schreiben wollen, geraten. Hemingway ist der Meister der wahren Sätze. Und Bob Dylan einer seiner würdigsten Nachfolger.

Janina Strötgen jstroetgen@tageblatt.lu

Sprache ist oft unscharf, eine Aussage unexakt, der Übergang von wahr und unwahr fließend. Die Diskrepanz zwischen Ausdruck und Inhalt beschäftigt die Sprachwissenschaft nicht umsonst seit Jahrhunderten. Deshalb sollte jeder, der die Sprache als sein wichtigstes Instrument in Anspruch nimmt – ob schriftlich oder mündlich, spielt dabei nur eine geringe Rolle –, sich diesen Satz auf den Monitor oder gleich an den Spiegel kleben: Schreibe den wahrsten Satz, den du weißt.

Oft ist in unseren Gesellschaften vom Verfall der Sprache die Rede. Gerne wird die Jugend mit ihrer Populärsprache angegriffen, ihrer Sprachschluderei, ihren ungenauen Grammatikkenntnissen, ihren Schreibfehlern und vor allem ihren Wortkreationen. Doch diese Diskussionen um Sprache und ihren Gebrauch treffen nicht das Problem. Sprache ist ein lebendiges Konstrukt, sie kann nicht verfallen, sondern sich nur verändern. Und wenn „simsen“ nun mal passender erscheint als „den Textnachrichtendienst betätigen“, dann hat „Textnachrichtendienst betätigen“ eben Pech gehabt. Wörter werden geboren, welken und sterben. Nur durch diese Flexibilität kann sich Sprache an gesellschaftliche Veränderungen anpassen, kann überhaupt der Anspruch erhoben werden, möglichst nahe an den richtigen Ausdruck für zurzeit geltende Wahrheiten heranzukommen. Und darum geht es schließlich.

Macht und Anerkennung

Das wirkliche Problem besteht nun allerdings darin, dass gerade jene Menschen, die für sich beanspruchen, anderen die Welt und ihre Wahrheiten zu erklären – Politiker, Experten, Journalisten … –, kaum mehr in der Lage sind, wahre Sätze zu sagen oder zu schreiben. Die Ursachen sind vielfältig. Die Ahnungslosigkeit ist sicher die gravierendste unter ihnen.

Die Krise, dieses aufgeladene Wort, um das sich der öffentliche Diskurs direkt oder indirekt heute meistens dreht, stellt Politiker, Experten, Journalisten … vor ein großes Problem. Ein großes Problem ohne klare Lösung. Das überfordert. Überforderung kratzt am Selbstwertgefühl, denn Macht und Anerkennung drohen zu schwinden. Deshalb muss die Ahnungslosigkeit schleunigst kompensiert werden. Zumindest das können sie alle auf ihre Art ganz hervorragend.

Der Experte fachsimpelt, so dass sich seine Worte zumindest klug anhören. Er mag sich sogar in seinem kleinen Fachbereich wunderbar auskennen, der eigene Brei schwimmt aber meistens zu tief, um über den Tellerrand blicken zu können, um wiederum wichtige Zusammenhänge zu erkennen. Der Politiker plustert sich erst einmal ordentlich auf, schlägt mit Floskeln um sich und hält Reden, dass dem Zuhörer – meist dem potenziellen Stimmengeber – die Ohren schlackern! Auch der Politiker ist ein Meister in der Kreation neuer Worte – nur leider meist von Worten ohne Inhalt. Daran wiederum kann sich der Journalist wunderbar festbeißen. Schließlich ist es auch einfacher, die Fehler anderer bloßzustellen, als sich selbst an die Materie heranzuwagen. Und versucht er es dann doch, verfällt er leicht dem unangemessenen Gebrauch von Stilmitteln. Besonders beliebt ist da die Ironie. Dank ihr bleibt eine Aussage gerne im Uneindeutigen. Wie leicht ist es, ironisch zu sein, sprachliche Pirouetten zu drehen und sich witzelnd herauszuwinden! Und mal ehrlich, die Wahrheit, wer will sie denn überhaupt hören? Die Wahrheit zu sagen bedeutet, in Anbetracht der Krise, Veränderungen heraufzubeschwören. Veränderungen verunsichern. Veränderungen kratzen am Selbstwertgefühl. Macht und Anerkennung drohen zu schwinden. Der Kreislauf geht von vorne los …

„People are crazy.“ Danke, Bob!