Corona-Tagebuch (46)Sonntag, 10. Mai: Hallo Egoismus und tschüss Menschlichkeit

Corona-Tagebuch (46) / Sonntag, 10. Mai: Hallo Egoismus und tschüss Menschlichkeit
Eine Frau hält während einer Protestkundgebung der Initiative „Querdenken 711“ in Stuttgart ein Schild mit der Aufschrift „Viren bringen keine Krankheit! Im kranken Immunsystem fühlen sich Viren wohl!“ hoch. Die Proteste am Wochenende zeigen, dass es vorbei ist mit der Welle der Solidarität.  Foto: dpa/Sebastian Gollnow

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Das Coronavirus beherrscht das Leben in Luxemburg. Die Lage scheint jetzt etwas entspannter, ist aber immer noch weit entfernt von gewohnter Normalität. Eigentlich genau der richtige Zeitpunkt, um seine Gedanken mal wieder in einem Tagebuch niederzuschreiben. Was fällt uns auf, was empfinden wir und was erwarten wir? Das Corona-Tagebuch des Tageblatt gibt Einblick in diese Gedankenwelt.

Liebes Tagebuch, schon wieder sind es mehrere Tage her, dass ich dir geschrieben habe. Das Coronavirus hat die Welt immer noch im Griff, aber statt die Wände hochgehen zu wollen wegen meines Lagerkollers, bin ich eher versucht, mit dem Kopf voraus voller Wucht gegen sie zu rennen. Vielleicht würde ich so genug Hirnzellen verlieren, um mich nicht mehr über den Egoismus und die Dummheit anderer aufzuregen. 

Ein Beispiel: Vor ein paar Tagen war ich eine Bestellung in einer Metzgerei abholen. Mit selbstgenähter Maske vor Mund und Nase habe ich gemeinsam mit einer Mutter und ihrem Sohn im Teenager-Alter, beide ebenfalls mit selbstgenähten bunten Masken ausgestattet, vor der Tür gewartet. Es dürfen immer nur drei Kunden gleichzeitig rein. Vor mir folgendes Gespräch. Der Sohn: „Soll ich mit rein?“ Die Mutter: „Wie du möchtest.“ – „Aber es dürfen immer nur drei rein. Da würde ich einem anderen den Platz wegnehmen, während ich warte.“ Ich musste lächeln und freute mich, dass es noch Menschen gibt, die Rücksicht auf andere nehmen.

Ein Kunde verließ den Laden, die Mutter trat ein. Der Sohn blieb draußen. Die nächste Kundin verabschiedete sich und ich betrat den Laden. Hinter der Theke war nur eine Verkäuferin, also warteten die Mutter und ich im gebührenden Abstand. Als der dritte Kunde den Laden längst verlassen hatte und die Mutter sich nicht zwischen zwei Fleischsorten entscheiden konnte, winkte sie ihren Sohn hinein. Er sah sich um und da sonst keiner wartete, betrat er den Laden, um ihr zu helfen. 

Einige Minuten später – Mutter und Sohn suchten sich gerade aus, welchen Aufschnitt sie möchten – betrat eine weitere Frau den Laden. Sie zählte durch, zuckte mit den Schultern und stellte sich direkt neben mich. Ich runzelte die Stirn, musterte den locker um den Hals geschlungenen Schal und rückte etwas ab, damit der Abstand wieder fast anderthalb Meter betrug. Die Frau bemerkte wohl meine gerunzelte Stirn, zog den Schal etwas runter, damit der Mund frei war, und meinte: „Unter den Masken wird mir schlecht, da krieg ich keine Luft.“ Ich nickte nur. Der Sohn hatte inzwischen die zusätzliche Kundin bemerkt und eilte wieder aus dem Laden. „Außerdem ist diese ganze Sache sowieso nur Panikmache. So schlimm ist das Virus gar nicht. Ich habe keine Angst.“ 

Ich konnte sie nur etwas ungläubig ansehen. „Die Masken sind ja nicht unbedingt dazu da, Sie oder mich zu schützen. Wir gehören nicht zur gefährdeten Gruppe“, versuchte ich zu erklären. Daraufhin meinte die Kundin: „Ich habe eine Freundin, die ist Ärztin. Die hat auch gemeint, alles übertrieben. Die, die daran gestorben sind, waren eh fast tot.“ Von so viel Egoismus überrumpelt sagte ich: „Das sehen die betroffenen Familien bestimmt anders.“ Glücklicherweise tauchte in dem Moment ein weiterer Verkäufer hinter der Ladentheke auf und ich konnte die Nummer meiner Bestellung durchgeben. Wenige Sekunden später konnte ich mit meinem Grillfleisch den Laden verlassen. 

Die fehlende Solidarität mit denen, die an Covid-19 sterben können, liebes Tagebuch, begegnet mir auch tagtäglich auf der Arbeit. „Nach mir die Sinnflut“-Kommentare, die sich über die „kürzeren Wartelisten in den Altersheimen“ freuen, muss ich regelmäßig unter unseren Artikeln löschen. Ich hoffte eigentlich, dass Witze à la „Babyboomer Remover“ nach den hohen Opferzahlen der vergangenen Wochen und Monate endgültig in der Gosse des Geschmacklosen geendet seien. Bei Facebook teilen gute Freunde, denen ich eigentlich mehr als nur ein bisschen gesunden Menschenverstand zutraue, Artikel, die das Coronavirus als „normale Grippewelle“ herunterspielen oder fordern, wir sollten wieder ohne Masken oder sonstige Einschränkungen zurück in den Alltag, um die „Herdenimmunität“ auszubauen. Die dann anfallenden Toten wären „ein nötiges Opfer“ und die „Lügenpresse“ würde alles nur fürs Geldverdienen hochspielen. Auf die Proteste in Deutschland an diesem Wochenende will ich gar nicht zu sprechen kommen, sonst werden meine Wände wirklich zur Zielscheibe. 

Liebes Tagebuch, es war mir klar, dass das Coronavirus kein Heilmittel gegen Dummheit oder Egoismus ist. Vor Wochen habe ich in einem Leitartikel davor gewarnt, dass es mit der Solidarität irgendwann vorbei sei. Aber als die Krise anhielt, war ich naiv genug, zu glauben, dass man so menschlich sein kann, nicht die Gesundheit und das Leben anderer für den eigenen Komfort aufs Spiel zu setzen oder das Leid der betroffenen Familien runterzuspielen. Ich bin eines Besseren belehrt worden. 

Das Corona-Tagebuch

Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.

titi
11. Mai 2020 - 11.01

Genauso ist es. Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Wie schrieb Erich Kästner? " Die Dummen werden nie alle ". Wie recht er hatte. Und diese Borniertheit riskiert uns in der jetzigen Situation, in der Anstand ( Abstand), Disziplin und Rücksichtsnahme mehr denn je gefragt und gefordert sind, zum Verhängnis zu werden. Nur haben Allzuviele das noch nicht geschnallt.

Marie-Lise Margue
11. Mai 2020 - 8.30

Ganz gudde Kommentar! Et mengt ee wierklech, bei verschiddene Leit géing de Virus Gehirzellen attakéieren. Glécklecherweis gëtt et awer och vill verstänneg a solidaresch Leit, déi engem Courage an Hoffnung an dëser ongewësser Zäit maachen.

J.Scholer
10. Mai 2020 - 20.38

Sie beschreiben die aktuelle Situation richtig. Solidarität ist ein schönes Wort, wie auch Entschleunigung, Globalisierung überdenken, die Pandemie bietet einen Neuanfang,.....Wörter und Sprüche die in diversen Medien , der Politik kursierten .Doch leider seit der Ceta Abstimmung in der Abgeordnetenkammer wissen wir, es bleibt alles beim Alten.Business as usual.