Klangwelten„I’ll eat you alive if you don’t take care“: John Grant – Boy From Michigan

Klangwelten / „I’ll eat you alive if you don’t take care“: John Grant – Boy From Michigan
John Grant – Boy From Michigan

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John Grant – Boy From Michigan
John Grant – Boy From Michigan

Der amerikanische Traum ist nichts für schwache, weichherzige Tölpel, singt John Grant auf dem titelgebenden Opener – und beginnt so einen autobiografischen Parcours, in dem er die Scham, die er als „Boy from Michigan“ wegen seiner Homosexualität empfand, musikalisch exorziert. Sein Heimatbundesstaat Michigan – in queeren Musikkreisen bereits von Sufjan Stevens ausgiebig besungen – ist dabei eine zentrale Figur der Platte: Die streng religiöse Umgebung, ähnlich wie das französische Arbeitermilieu bei Edouard Louis, hat ihn in seiner Jugend davon überzeugen wollen, Scham für seine „Andersartigkeit“ zu empfinden – wovon die Textzeilen „I only feel shame and that makes me feel rage/At myself“ auf „Mike And Julie“ zeugen.

Weil seine Eltern dachten, etwas wäre falsch mit ihrem Sohn, weil er als Schuljunge gemobbt wurde, entwickelte er chronische Angstzustände, später hatte er mit Alkohol- und Drogenabhängigkeit zu kämpfen – und 2011 fand er heraus, dass er HIV-positiv ist. Ein glücklicher Lebenslauf geht anders, auf der neuen Platte vertreibt Grant mal wieder, mit einer gewissen Verspieltheit und reichlich Humor, seine Dämonen: Der Titelsong und „Rusty Bull“ sind lange, toll geschriebene Elektrojams mit vielschichtigen Synthesizern, besonders Letzteres erinnert von der Instrumentierung an eine entschlackte Version von IAMX.

Darauf folgt mit „The Cruise Room“ eine Elektroballade, die weder den Pop noch das Autotune scheut, mit melancholischen Bläsern trumpft und uns daran erinnert, das John Grant seine Karriere als Sänger der verkannten Indie-Band The Czars begann. „Mike And Julie“ erinnert ein wenig an Todd Terrjes Cover-Version von „Johnny & Mary“, „Best In Me“ an die Pet Shop Boys, „The Only Baby“ kombiniert gekonnt Elton-John-Anleihen mit zynischen Texten und Elektrokrach. Auf „Rhetorical Figure“ verneigt sich Grant vor tanzbarem Postpunk und dem schrägen Avantgarde-Pop-Genie John Maus, der Sänger und ausgebildete Dolmetscher konjugiert deutsche Verben und meint: „If you want to get with me/You better have a rhetorical figure“.

Nicht alle Songs zünden gleich und mit 75 Minuten ist die Platte etwas zu lang geraten (einige Balladen wie „Just So You Know“ ufern aus, „Your Portfolio“ fehlt es an Struktur) – dennoch ist das hier nicht nur eine selbstzentrierte autobiografische Katharsis, sondern auch eine Platte, die dank ihrem Facettenreichtum, ihrer Kohärenz und ihren Texten stets spannend bleibt. Und dank der tollen Produktion der befreundeten Musikerin Cate Le Bon hat jeder Track, ganz gleich ob Elektrojam, Postpunk-Krach oder Ballade, das passende Klanggewand. (Jeff Schinker)

Anspieltipps: Boy From Michigan, Country Fair, The Cruise Room, The Only Baby

Bewertung: 8/10