LiteraturWunderland Prenzlberg: Lutz Seiler über das alte neue Berlin

Literatur / Wunderland Prenzlberg: Lutz Seiler über das alte neue Berlin
Lutz Seiler Foto: (C) Heike Steinweg

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„Stern 111“ erzählt von der Aufbruchstimmung kurz nach dem Mauerfall. Den Geist jener Zeit und das Leben in der Ost-Berliner Boheme fängt er wunderbar ein, als Liebes- und Künstlerroman überzeugt er weniger.

2014 hatte Lutz Seiler für „Kruso“, seine Erkundung der DDR-Gegenkultur der späten 80er Jahre auf der Insel Hiddensee, den Deutschen Buchpreis erhalten. Mit „Stern 111“ knüpft der Autor unmittelbar an diesem Erfolg an, und das nicht nur, weil das Buch bereits mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Der neue Roman liest sich fast wie eine Fortsetzung des alten, inklusive Gastauftritten einiger alter Bekannter. In der Chronologie der Ereignisse sind wir bis in die unmittelbare Nachwendezeit vorangeschritten. Wieder geht es um gesellschaftliche Freiräume, um Aussteiger und Unangepasste, um den Traum vom selbstbestimmten Leben, dessen Verwirklichung für einen Moment greifbar nahe erscheint. Der heterotopische Sehnsuchtsort liegt diesmal allerdings nicht am Rande, sondern im Herzen des zerfallenden Ostdeutschlands. Er heißt Berlin, genauer gesagt: Prenzlauer Berg.

Dorthin verschlägt es den jungen Carl Bischoff wenige Wochen, nachdem die Grenzen geöffnet wurden. Zuerst muss er sich allerdings noch um die Reisewünsche anderer kümmern. Die Eltern, Inge und Walter, wollen ebenfalls weg, mit 50 einen Neuanfang im Westen wagen, und zwar getrennt. Carl soll „die Nachhut bilden“ und auf die Wohnung und den innig geliebten Wagen, einen russischen Shiguli, in Gera aufpassen. So steht die Welt kopf im November 1989: Die Eltern reißen aus, die Kinder bleiben zu Hause. Aber der gelernte Maurer, Bummelstudent und angehende Dichter Carl hält es nicht lange aus in der thüringischen Provinz und macht sich mit dem Shiguli auf in die Hauptstadt.

Experimente im Vakuum

Die Stärke Seilers liegt in der Beschreibung des sonderbaren Mikrokosmos, den sein Held dort vorfindet. Carl tritt ein in ein Machtvakuum, eine Zeit mit unsicheren Verhältnissen, aber großem Potenzial. Der DDR-Staatsapparat ist kollabiert, aber die Deutsche Einheit noch nicht vollzogen. Die größtenteils leerstehenden Häuser Prenzlbergs befinden sich noch im Volksbesitz, und so lassen sich all die Ideen von Selbstverwaltung und wahrem (im Gegensatz zu real existierendem) Sozialismus endlich einmal in die Wirklichkeit umsetzen. Zusammen mit dem Protagonisten werden die Leserinnen und Leser in eine Welt eingeführt, in der Wohnungssuche darin besteht, irgendwo ein eigenes Schloss anzubringen und sich in der Nachbarschaft ein paar Möbel zusammenzusuchen. Arbeit bedeutet für Carl zuerst Schwarztaxifahren, später hilft er, als Maurer einen Keller zu einer Kneipe umzubauen, in der dann auch kellnert. Seine Gedichte schreibt er zu Hause auf einer Werkbank. Kunst und Handwerk bilden hier, wie in mancher sozialistischen Utopie, eine Einheit.

Umgeben wird Carl von einem „Rudel“ Gleichgesinnter. Ihr Anführer wird Hoffi genannt. Er zieht mit einer Ziege durch die Straßen, auf deren Milch er Großes hält, und schmiedet Pläne für die „Arbeiter-Guerilla“, die die besetzten Häuser im bewaffneten Kampf verteidigen soll. Jeder weiß, dass die soeben errungene Freiheit nicht von Dauer ist. Aber statt sich mit den neuen Herren zu bekriegen, siecht der Revoluzzer irgendwann dahin. Aus dem Westen erreichen Carl derweil Briefe, die von anderen Umwälzungen künden. Die vielen Rückschläge, aber auch wundersamen Erfolge, die Inge und Walter Bischoff in Westdeutschland und am Ende gar im kapitalistischen Herzland der USA erleben, bilden einen Kontrapunkt und ein Korrektiv im Roman. Sie relativieren den nostalgischen Blick auf die bereits vielfach mystifizierten Pionierjahre im Prenzlauer Berg.

Pech in der Liebe, Glück in der Kunst

Weniger geglückt ist die Liebesgeschichte und auch der Künstlerroman, die Lutz Seiler in „Stern 111“ verwebt. Carl Bischoff ist als Figur völlig uninteressant, ein blauäugiger, aber sensibler und gutmütiger junger Mann, der seinen Weg in der Welt sucht, im Grunde ein Wiedergänger Edgar Bendlers aus „Kruso“. Sein künstlerischer Reifeprozess ist an die Beziehung zu seiner Jugendliebe Effi gekoppelt, die er zufällig in einer Galerie wieder trifft – in den magischen Räumen Ost-Berlins kann scheinbar alles passieren. Diese Effi erscheint lange Zeit als mysteriöses, unbekanntes Wesen im Text, das der Held, sobald er endlich etwas kapiert hat, hinter sicher lassen muss. Das wirkt doch etwas antiquiert und vorhersehbar, ebenso wie Carls unvermeidliche Verwandlung in einen aufstrebenden Schriftsteller. Es fällt schwer, sich über 500 Seiten für solche tradierten Muster zu begeistern.

Dennoch, man kann sich von Lutz Seilers geradliniger, aber atmosphärisch dichter Prosa leicht verführen lassen und über all die wahnwitzigen Dinge staunen, die damals für eine kurze Zeit einfach so möglich waren – in Ost wie in West. Der „Stern 111“ aus dem Titel ist übrigens ein altes DDR-Radio, das sich dank seiner soliden Bauweise über die Zeiten bewahrt hat. Auch dieser Roman versucht, die brauchbaren Dinge aus der Geschichte in die Gegenwart hinüberzuretten, den verengten Erwartungshorizont in Bezug auf die Frage, wie unsere Gesellschaft aussehen könnte, ein bisschen zu weiten.

Info

Lutz Seiler: Stern 111. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020. 528 Seiten. 24 €.