Die Krise schreiben (2)Wir haben es im (Würge-)Griff

Die Krise schreiben (2) / Wir haben es im (Würge-)Griff
Nicht die Angst um das nackte Überleben, sondern die Angst, dass sich unser Lebensstandard verändern könnte, ist die Motivation hinter den Hamsterkäufen. Foto: pixabay

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Ein Virus versetzt die Welt in einen Ausnahmezustand. Inzwischen betrifft es nahezu jedes Land, jede Region dieses Planeten. Die schnelle, weltweite Ausbreitung ist eine logische Konsequenz in unserer globalisierten Welt. Mit unterschiedlichen Maßnahmen wird versucht, die Pandemie, wenn schon nicht zu stoppen, so doch wenigstens halbwegs in den Griff zu bekommen.

Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Meinungen gehen auseinander, selbst jene der Expert*innen. Und das ist auch gut so. Universelle und ewig gültige Eindeutigkeit wäre ein Versprechen, das nicht einzulösen ist. Eigenverantwortliches Handeln ist dadurch eine umso größere Herausforderung, aber das war es auch schon vor einigen Wochen, Monaten, Jahren. Nur hatten wir vorher das Gefühl, alles „im Griff“ zu haben. Und blendeten allzu oft die Probleme der anderen aus. Sowohl die gesellschaftlichen Reaktionen als auch eine Reihe von politischen Entscheidungen offenbaren erschreckende Mechanismen, die wir dachten, längst überwunden zu haben, offensichtlich aber tief in unserem Denken verankert sind.

Anfängliche Beobachtungen

Vielleicht zunächst einen Schritt zurück. Ich erinnere mich, wie ich einen Bericht sah, dass in China innerhalb weniger Tage zwei neue Krankenhäuser gebaut wurden. Mein Gedanke: Das geht aber auch nur in China.
Was zu tun war, schien klar zu sein, das ‘Wie’ schien mir fragwürdig.

Dass dieses Virus auch bis nach Europa schwappen könnte, war für mich kein wirkliches Thema. So wie einst von der SARS-Pandemie betroffene Gesellschaften schnell und rigoros reagierten, wurde meine Einschätzung von der Erinnerung vernebelt, dass SARS uns damals eben nicht erreichte. Dennoch wunderte ich mich, dass China mit der Katastrophe ziemlich allein gelassen wurde. Vielleicht irre ich mich, aber ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, dass westliche Staaten Hilfen angeboten hätten, um die Ausbreitung des Virus in China bestmöglich zu stoppen.

Ab Februar verschärfte sich die Situation auch hier und es wurde Desinfektionsspray und Toilettenpapier gehamstert. Das mag eine Überschussreaktion gewesen sein. Desinfektionsmittel zu kaufen, ist noch nachvollziehbar, aber Toilettenpapier? Nicht Wasser, sondern Toilettenpapier? Nicht die Angst um das nackte Überleben, sondern die Angst, dass sich unser Lebensstandard verändern könnte, ist die Motivation.
Und auch erkennbar: In der Krise (sogar bereits in der Vorstufe der Krise) stirbt die Solidarität zuerst. Ein Hinweis, dass solidarisches Handeln nicht wirklich tief im Wesen unserer Zivilisation verankert ist, sondern nur behauptet wurde, solange man dafür nichts tun musste oder gar etwas aufgeben musste?

Mit Zahlen alles in den Griff bekommen

Spätestens ab Ende Februar, Anfang März beschleunigten sich die Dinge. Ein Blick ins Ausland ließ schnell vermuten, dass das wahrscheinlichste Szenario eine rigorose Einschränkung der physischen Kontakte sein könnte. Was einen Stillstand des öffentlichen und besonders des wirtschaftlichen Lebens bedeutet hätte. Insbesondere Letzteres war und ist auch in gewisser Weise weiterhin undenkbar. Stattdessen wurden Zahlen kommuniziert. Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Menschen mussten abgesagt werden, dann mit 500. Leider wurde versäumt, zu kommunizieren, woher diese Zahlen kamen. Konnten Krankenhäuser eine Welle von 500 akut erkrankten Menschen problemlos auffangen und deswegen durften sich 500 Menschen treffen? War es bürokratisch vorstellbar, 500 Menschen im Falle einer Infektion telefonisch zu erreichen? Oder handelte es sich um eine Salamitaktik, um nicht gleich von einem Tag zum nächsten das öffentliche Leben zum Erliegen zu bringen? Ebenso verhält es sich mit den Öffnungszeiten, beispielsweise in der Gastronomie: Ladenschluss ab 18.00 Uhr, dann 15.00 Uhr. Und auch die Anzahl der Menschen, die sich privat in Gruppen treffen durften, wurde täglich geändert.

Diese Richtlinien, wenn sie auch variierten, erweckten den Eindruck, die Politik sei handlungsfähig und entscheidungsfreudig, man habe es „im Griff“. Doch eigentlich hätten diese ständigen Veränderungen auch signalisieren können, dass da gerade eine ganz, ganz große Nummer vor der Tür steht, um es mal lapidar zu formulieren. Dass es vielleicht sinnvoll wäre, wenn möglich zu Hause zu bleiben, bis man mehr weiß. Solidarisch sein. Eigenverantwortlich. Wie man das eben von erwachsenen Menschen in einer Demokratie erwarten könnte. Was aber passierte? Wohl im Bewusstsein, dass morgen alles geschlossen haben könnte, wurde jede Konsumsekunde genutzt, seitens der Käufer wie auch der Verkäufer. Als es hieß, ab morgen dürften sich Menschen nur noch in Gruppen von fünf Menschen treffen, wurde schnell noch eine große Party organisiert. Kurzum: Freiheit wurde uns angeboten, Verbote wurden zurückgefordert.

Die Fortführung

Derzeit kämpfen Menschen um ihr Überleben. Arbeiten Ärzt*innen und das Pflegepersonal über ihre Kräfte hinaus. Mir scheint, wir müssen uns selbst auch immer wieder darin erinnern, dass wir uns nicht in einem großen Experiment befinden, sondern diese Situation durch ein Virus verursacht wurde, das bereits viele Menschen das Leben gekostet hat und noch weitere Todesopfer bringen wird.

Ob man hellsichtiger schon früher politische Maßnahmen hätte ergreifen müssen (China helfen), gilt es auch noch zu diskutieren, aber auch dies sollte zu einem späteren Zeitpunkt passieren. Als die Ereignisse sich überstürzten, blieb keine andere Wahl, als schnell zu reagieren. Dazu gehörte auch, fest verankerte Rechte außer Kraft zu setzen. In der akuten Phase mag die Art, wie Maßnahmen beschlossen wurden, akzeptabel gewesen sein. Doch die durch Covid-19 ausgelöste Situation ist noch lange nicht vorbei. Die nächsten Entscheidungen stehen an. Diese müssen jedoch jetzt nicht mehr länger per Dekret im Ausnahmezustand getroffen werden. Wie unser Leben in naher und ferner Zukunft aussehen könnte oder sollte, muss jetzt transparent und demokratisch diskutiert werden.

Zudem gilt es, die zukünftigen Folgen dieser Entscheidungen nicht zu unterschätzen. Denn wenn eines Tages die Regierung aus Menschen besteht und von Menschen gewählt wurde, die heute für Grenzschließungen plädieren, bedenkenlos Freiheiten und Rechte aufgeben, Triage als sinnvoll erachten, kranke und alte Menschen zur Isolation zwingen, während all die anderen arbeiten sollen, und Beiträge wie diesen für irrelevant halten, möchte zumindest ich nicht, dass eine solche Regierung den Ausnahmezustand ausrufen und eigenmächtig handeln kann.

Versteesdemech

Auf Luxemburgisch wird Verständnis mit dem schönen Wort „Versteesdemech“ übersetzt. Wörtlich: Verstehst-Du-mich. Es setzt die emphatische Fähigkeit voraus, sich rational und emotional in die Situation des anderen zu versetzen. Immer noch sind andernorts Menschen in Camps zusammengepfercht. Auch dort stellt das lebensbedrohliche Virus eine Gefahr dar. Und weiterhin toben Kriege, auch wenn im Moment nur wenig bis gar nicht davon berichtet wird. Weiterhin verhungern Menschen, zerstört der Klimawandel den Planeten.

Man kann nicht jeden Tag das Leid der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen. Aber da wir nun selbst spüren, was es bedeutet, einer lebensgefährlichen Situation ausgesetzt zu sein, was es heißt, von den Menschen, die einem wichtig sind, getrennt worden zu sein, wie es sich anfühlt, nicht mehr arbeiten zu können, nicht mehr für den eigenen Broterwerb verantwortlich zu sein, isoliert zu sein, sich verlassen und übersehen zu fühlen, fällt es uns vielleicht leichter, mehr Verständnis für andere Menschen aufzubringen. Und wie Covid-19 nun die ganze Welt im Griff hat, so können oder werden auch die Folgen anderer Katastrophen uns eines Tages einholen. Es sei denn, wir handeln jetzt. Solidarisch.

Das wird jedoch nicht möglich sein, solange in den bestehenden Denkmustern gehandelt wird. Denn nicht das Virus lässt uns kopflos handeln, sondern eine andere unsichtbare Kraft, jene des Geldes. Die Bereitschaft, freiwillig zu Hause zu bleiben, beziehungsweise das eigene Personal nach Hause zu schicken, die Bereitschaft, seinen Lebensstandard einzuschränken, wurde durch den wirtschaftlichen Aspekt konterkariert. Vielleicht sind wir Menschen ja doch zutiefst solidarisch und bereit, auch in unüberschaubaren Situationen eigenverantwortlich zu handeln, und nur die Notwendigkeit, zu produzieren, Geld zu verdienen und zu konsumieren, hindert uns daran … Der Würgegriff.

Wir merken aber hoffentlich auch, wie wertvoll die freiheitliche Demokratie ist. Diese kann aber nur funktionieren, wenn alle daran partizipieren. Wenn wir selbst sowohl politisch als auch gesellschaftlich aktiv sind. Aber dafür müssen wir uns auch die entsprechenden Mittel geben. Wird die finanzielle Sorge uns dazu treiben, unbesonnen zu agieren? Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um uns von dieser Last zu befreien, um das gesellschaftliche, friedliche Zusammenleben höher zu stellen als die Mechanismen der Marktwirtschaft? Wir können uns aus dem Würgegriff befreien und erneut durchatmen. Aber nicht innerhalb des bestehenden Systems.

Die Krise schreiben

Jede Woche kommt an dieser Stelle ein Schriftsteller zu Wort, der die aktuelle Krise fiktional oder essayistisch umfasst und somit neue Denkanstöße gibt.
Seit 2019 ist Olivier Garofalo als Dramaturg und Dramatiker am Rheinischen Landestheater Neuss engagiert, zuvor arbeitete er am ETA-Hoffmann-Theater Bamberg sowie an der Badischen Landesbühne Bruchsal. Stücke von ihm wurden u.a. am Theater Trier, an der Badischen Landesbühne, am Theater der Stadt Aalen, am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau, im Kasemattentheater, am Grand Théâtre, am Forum Theater Stuttgart und am Théâtre national du Luxembourg, wo er in der Spielzeit 2016/17 Hausautor war, inszeniert. Zudem wurden Kurzgeschichten und Essays von ihm in Luxemburg, Bamberg und Wien publiziert. Die aktuellen Ereignisse erlebt und verarbeitet er gegenwärtig schreibend in Neuss in verschiedenen Formaten. www.oliviergarofalo.com