„Wir fühlen uns geehrt, ihn ehren zu dürfen“

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„Wir fühlen uns geehrt, ihn ehren zu dürfen“, sagte Dieter Kosslick, als er bekannt gab, dass der französische Regisseur Claude Lanzmann in diesem Jahr mit dem Ehrenbären der Berlinale geehrt werden soll.

Damit geht diese Auszeichnung zum ersten Mal an einen Dokumentarfilmer, doch gleichzeitig vergibt die Berlinale mit dieser Entscheidung auch die Chance auf Auseinandersetzung.

Claude Lanzmann, 1925 als Sohn jüdischer Eltern in Paris geboren, kämpfte in der Résistance, studierte in Frankreich und Deutschland Philosophie und hatte 1948/49 eine Dozentur an der neugegründeten Freien Universität Berlin inne. Er war einer der aktiven Unterstützer der algerischen Unabhängigkeitsbewegung Anfang der 60er Jahre. Seine Auseinandersetzung mit der Shoah, dem Antisemitismus und den politischen Freiheitskämpfen durchziehen sein filmisches wie journalistisches Schaffen.

Lanzmann arbeitete bis Anfang der 70er Jahre vor allem als Journalist und ist bis heute Herausgeber der von Jean-Paul Sartre begründeten Zeitschrift „Les Temps Modernes“. In den 60er Jahren gehörte er auch zum Kreis der Intellektuellen um Sartre und Simone de Beauvoir. Bis heute ist Claude Lanzmann einer der bedeutendsten Protagonisten des politisch-geistigen Lebens unserer Zeit. Unter dem Titel „Le lièvre de Patagonie“ veröffentlichte er 2009 seine Erinnerungen, in denen er literarisch eindrucksvoll seine persönliche und politische Lebensgeschichte erzählt und unter anderem den jahrelangen Entstehungsprozess seines filmischen Meisterwerks Shoah schildert.

Am Vorabend der feierlichen Verleihung des Ehrenbären im Berlinale Palast, hatte die deutsche Kinemathek, die seit 1977 die Hommage der Berliner Festspiele betreut, zu einem Gespräch zwischen Claude Lanzmann und Ulrich Gregor, Filmhistoriker, Mitbegründer der Freunde der Deutschen Kinemathek und ehemaliger Leiter der Berlinale (1981-2000), geladen.

Die beiden Herren haben beide die achtzig Jahre bereits überschritten. Besonders Lanzmann war von Beginn an anzumerken, dass er sich beim Schwelgen in Erinnerungen am wohlsten fühlt. Wohl auch, weil er dann Sätze sagen kann, die ihm galant von den Lippen gehen, weil er sie schon in zahlreichen Interviews platzieren konnte oder bereits in seiner Biografie „La lievre de Patagonie“ für die Nachwelt aufgeschrieben hat. So erzählt er zum Beispiel von seinen Erinnerungen an 1986, als sein Monumentalwerk über die Judenvernichtung, der neuneinhalb Stunden lange Dokumentarfilm „Shoah“, auf der Berlinale zum ersten Mal gezeigt wurde: „Die Bürger von Berlin hatten Angst, ihn zu sehen. Und ich hatte Angst, ihn zu zeigen“, so Lanzmann. Als die ersten Menschen ihre Kinoplätze verliessen, dachte er, sie hätten genug von den Bildern und Zeugenberichten. Dass sie nur kurz hinaus gingen, um ein paar Züge von ihrer Zigarette zu nehmen, um dann weiterzuschauen, hätte ihn damals sehr bestätigt. Das grosse Interesse, die Diskussionen mit vor allem jungem Nachkriegspublikum und die vielen Nachrichten auf seiner Hotelmailbox hätten ihn gefreut und bewegt.

Auch in diesem Jahr wird der Film im Programm der Berlinale gezeigt, immer noch sind die Eintrittskarten schnell verkauft. „Shoah“ sei ein Film „ohne Falten“, sagt Lanzmann. Mann werde ihn sich auch noch in fünfzig Jahren ansehen. Doch Lanzmann wehrt sich gegen die Instrumentalisierung des Films als Beweis für den Holocaust. All jene die einen Beweis für das „perfekte Verbrechen“ der Nazis bräuchten, sollten einmal die jüdischen Grabinschriften auf Pariser Friedhöfen lesen: gestorben in Treblinka 1942, vernichtet in Ausschwitz 1943 – doch die Gräber seien leer. Keine Knochen, keine Spuren: Die Abwesenheit von Leichen sei der beste Beweis für das perfekte Verbrechen der Nazis.

Es ist sicherlich bewegend, einen Menschen, wie Claude Lanzmann, der 1925 geboren wurde, in der Résistance kämpfte und der bis heute sowohl filmisch, als auch journalistisch massgeblich zur Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Holocaust beiträgt, live zu erleben. Und er hat eine Auszeichnung, wie den Ehrenbären für sein Lebenswerk, wirklich verdient. Doch vergibt die Berlinale eine wichtige Chance, in dem sie einen Mann vor die Scheinwerfer stellt, der keine Lust mehr hat, zu diskutieren. Der dem Festival keinen neuen Input geben wird. Der genug gekämpft hat, in seinem Leben. Auf die Frage, was er jungen Generationen im Umgang mit Antisemtismus raten würde, sagt er nur, sie sollten sich „Shoah“ anschauen. Eine Frage zur aktuellen politischen Lage im Nahen Osten blockt er sofort ab. Und über den Stellenwert des Films in der Beschäftigung mit Politik wollte er auch nichts sagen. Wir sollten alle „La Lièvre de Patagonie“ lesen, da stünde alles drin.

Die Leitung der Berlinale hat entschieden, am Donnerstag nach der Zeremonie Lanzmanns Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ zu zeigen, ein Film, der vom Widerstand im Vernichtungslager Sobibor erzählt, ein Film, in dem Juden Deutsche töten. Für Claude Lanzmann hat diese Entscheidung „Klasse“, sie zeige die Unangepasstheit der Festivalleitung. Wirklich?