Wenn die Seele verhungert

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Vier Personen ohne Namen sprechen einen Text ohne Handlung und ohne Hoffnung. Vier Personen, die in ihren Stimmen aufgehen und der poetischen Sprache Sarah Kanes den Vortritt lassen. Auch wenn die Sprache sicherlich Protagonistin des Stückes ist, heißt das noch lange nicht, dass der Inhalt hinter der Form verschwinden muss. Die Inszenierung von Anne Simon...

Sarah Kane war gerade einmal 27 Jahre alt, als sie sich 1999 das Leben nahm. Hinterlassen hat sie fünf Theaterstücke, die zu den brutalsten und radikalsten Werken der modernen britischen Dramatik zählen.
Vor allem der Text von „Gier“, ihrem vorletzten Stück, besticht durch seine verstörende Kraft. In einzelnen Sätzen, abgerissenen Dialogen und fragmentarischen Geschichten wühlt er in den Tiefen des seelischen Verfalls und in den Wunden der menschlichen Psyche, ohne eine tatsächliche Handlung zu entfalten.
Zusammenhangslose Sätze, Fragen ohne Antworten, sehnsüchtige Beschwörungen und verzweifelte Wutausbrüche reihen sich aneinander und decken das unerfüllte Bedürfnis des Menschen nach Liebe auf. Allein die Sprache entlarvt die Hoffnung auf Erlösung durch die Liebe als Illusion.

Scherbenhaufen der menschlichen Existenz

Die Stimmen von Nora Koenig, Marc Limpach, Martina Roth und Germain Wagner kreisen um den Zustand der Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die das Leben nicht einzulösen vermag, doch ständig Ambivalenzen bereithält: Die Begierde nach sexueller Liebe, das Streben nach Anerkennung, die Folgen von Missbrauch, ein Kinderwunsch oder pädophile Fantasien wuchern in der menschlichen Seele, ohne erfüllt zu werden.
Übrig bleibt ein Scherbenhaufen der menschlichen Existenz, dargestellt von vier Schauspielern, die alle für einen, aber auch für hunderte von Menschen sprechen könnten.
Auch wenn Anne Simon der Kaneschen Text- und Sprachbesessenheit treu bleibt, entfaltet sie in ihrer Inszenierung dennoch einen gewissen Zusammenhalt der einzelnen Fragmente. Sie lässt Beziehungen zwischen den Schauspielern erahnen, bringt sie für kurze Zeit zusammen an einen Esstisch, deutet Beziehungen unter ihnen an, um sie dann, wenige Sätze später, wieder zu isolieren. Ihre Worte prallen in den leeren Raum, ohne Ansprechpartner klagen, fantasieren und suchen sie für sich alleine.
Anne Simon ist es gelungen, die Schlüsselbotschaften der Kaneschen Dramaturgie – die Ambivalenz der Liebe zwischen Befreiung und Zerstörung, das Verstummen der Menschen im Zeitalter unbegrenzter Kommunikationsmöglichkeiten, das Spannungsverhältnis zwischen Körper und Seele – in unterschiedlichen Facetten darzustellen.
Dabei kann sie sich auf die Sprachsicherheit und Ausdrucksstärke ihrer Schauspieler verlassen. Sie wetzen die Worte wie Messer aneinander, ihre Emotionsfetzen und Textfragmente bilden eine Sprachsymphonie in dunkelstem Moll.
Besonders Nora Koenig beeindruckt durch ihre Darstellung einer selbstzerstörerischen jungen Frau, die sich gegen jegliche Nähe wehrt, noch nicht einmal „den Geruch ihrer Familie“ ertragen kann, sich „seelisch verhungert“ fühlt und verzweifelt versucht, ihren Körper durch Fressattacken und Selbstverstümmelungen an diesen Zustand anzupassen. Denn, um mit Sarah Kane zu schließen: „Fülle nicht meinen Bauch, wenn du nicht mein Herz füllen kannst. Nur Liebe kann mich retten, und Liebe hat mich zerstört.“