Von singenden Staatsfeinden bis hin zu Goya

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Legenden sind dazu da, immer wieder erzählt zu werden – sie halten die Gemeinschaft zusammen. In Nyon, einer Kleinstadt am Genfer See, ist dies nicht anders und hier erzählt man sich folgende Geschichte. Gil Max

Der Veranstalter des Paléo-Festivals, Daniel Rossellat, schrieb im September 1974 einen Brief an Maxime Le Forestier, in dem er den Pionier des französischen Protestsongs, der zu jener Zeit die größten Konzertsäle Frankreichs füllte, allen Ernstes einlud, ein Konzert im Festsaal des Gymnasiums von Nyon zu spielen. Als die Antwort aus Paris ausblieb, setzte sich der damals 21-Jährige hinter das Steuer seiner alten „Deuche“, mit der er gut und gerne 15 Stunden bis in die französische Hauptstadt benötigte, klopfte dort an die Tür des Sängers und stand plötzlich dessen Manager Roland Hubert gegenüber. Gerührt von so viel Entschlossenheit und Begeisterungsfähigkeit, ging das Management des Folkbarden schließlich auf das Angebot des jungen Provinzlers ein. Der Rest ist Geschichte: Zwei Jahre später findet das erste „Nyon Folk Festival“ statt, das während drei Tagen 1.800 Besucher anzieht. 1977 wird das Festival unter dem Namen „Paléo-Folk-Festival“ erstmals als Open-Air-Veranstaltung für 17.500 Zuschauer organisiert. Heute ist das Paléo-Festival eines der größten Musikfestivals Europas. Seit knapp zehn Jahren ist das sechstägige Spektakel bereits lange im Vorfeld ausverkauft: Rund 225.000 Menschen kommen in den Genuss von über 100 musikalischen Darbietungen.

Die Seele des Festivals bewahren

Bei aller Gigantomanie und rundum perfekter Organisation haben die Veranstalter jedoch nie ihre Seele an den Kommerz verkauft. Neben den ganz großen Namen der Pop- und Rockwelt finden hier auch jede Menge junger, namenloser Musiker, Straßenkünstler und Kabarettisten ihr Publikum. Außerdem wird das Wort Völkerverständigung großgeschrieben: Im „Village du monde“, einer Art Festival innerhalb des Festivals mit eigener Bühne, welches in diesem Jahr der Musik und Tradition Brasiliens gewidmet war, konnten die Festivalbesucher in die Lebenswelt der Surui-Indianer eintauchen, sich leckere Insekten grillen lassen oder sich für den Erhalt des tropischen Regenwaldes engagieren. Was die Headliner betrifft, so konnten alle auf ihre eigene Art und Weise überzeugen. The Hives beeindruckten wie immer durch energiegeladenen RetroRock, bei dem jedes Riff an der richten Stelle sitzt, und der völlig überdrehte Sänger Pelle Almqvist entweder staksig am Bühnenrand herumspringt, sich im Jubelgeschrei sonnt oder das Mikro am langen Kabel wie ein Lasso durch die Luft schleudert. Routinier Ben Harper – nach seiner Entdeckung im Jahre 1994 mittlerweile zum 6. Mal am Start – präsentierte eine hervorragende Begleitband, brachte seine „Love, peace & understanding“-Botschaft glaubwürdig rüber und holte beim Song „Boa Sorte/Good luck“ die Brasilianerin Vanessa Da Mata zum Duett auf die Bühne. Beim Auftritt Mikas hingegen ist der Name seines Albums „World in cartoon motion“, das 2007 unter anderem drei World Music Awards einheimste, Programm. Die perfekt inszenierte Popshow, die ein zum größten Teil sehr junges Publikum verzückte, wirkte wie eine Mischung aus „Alice im Wunderland“ und Chantal Goya. Im krassen Gegensatz dazu standen die Darbietungen der politisch engagierten Tiken Jah Fakoly und Manu Chao. Der Sänger von der Elfenbeinküste präsentierte rund groovende Popsongs im Offbeat, freundlich verkifften Reggae mit einem euphorischen Backgroundchor, satten Bläsern und einigen westafrikanischen Einflüssen, doch diese Musik ist es, die ihn zum Staatsfeind in seiner Heimat gemacht hat.

Große Sensibilität

Oberflächlich betrachtet, findet eine große Party statt, wenn Fakoly auftritt, aber vor seinen Texten – wie z.B. „Mangercratie“ – fürchten sich die Herrschenden, weil seine Botschaften ihn zum Volkshelden haben werden lassen. Auch Weltenbummler und Globalisierungskritiker Manu Chao beeindruckte ebenso durch die musikalische Vielfalt und Power seines zweistündigen Sets wie durch die spürbare innere Verpflichtung des Sängers für eine bessere Welt. Stark umjubelt waren auch die Auftritte von Vanessa Paradis, deren Produzent und Gitarrist „M“ mit seiner Band den Sixties-Flair des letzten Albums „Divinidylle“ mühelos auf die Bühne übertrug, von Massive Attack, die in der Kategorie „Bester Sound“ absahnten und – last but not least – R.E.M., die souverän, vielleicht etwas zu routiniert, aus ihrem schier unausschöpflichen Repertoire tolle Songs zum Besten gaben. Auf den kleineren Bühnen zeichneten sich zwei Phänomene ab: Zum einen wusste die Fraktion aus Belgien, die mit dEUS, Girls in Hawaii, Sharko und Vive la Fête stark vertreten war, zu begeistern, zum anderen scheint sich im Bereich World-Musik ein Trend hin zu überaus gutaussehenden Frauen mit toller Stimme, großer Sensibilität und beeindruckenden Songwriterqualitäten anzubahnen: Dieser Kategorie zuzuordnen wären die Nigerianerinnen Asa und Nneka, die Israelin Yael Naïm und die Kapverdierin Mayra Andrade. Vielleicht hatte Paléo-Chef Daniel Rossellat diese vier Damen im Visier, als er auf der abschließenden Presse-Konferenz bemerkte: „Tous les sens des spectateurs étaient en émoi.“
www.2008.paleo.ch