Vom Traum zum Albtraum

Vom Traum zum Albtraum
(Tageblatt/Hervé Montaigu)

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Wir sitzen in der Loge des Kapuzinertheaters. Es ist kurz vor zehn, unser Arbeitstag beginnt mit einem Gespräch. Darüber sollten wir glücklich sein ...

„Verschiedene Ideen fliegen in meinem Kopf zusammen und dann habe ich plötzlich die Idee zu einer Figur“, erklärt Autor Mani Muller den Ausgangspunkt zur Entstehung eines Textes. In seinem neuen Stück „La Folle de Grace“, das Carole Lorang am Kapuzinertheater inszeniert, heißt diese Figur Paule, Ehefrau und Mutter, eine Verrückte, besessen von Grace Kelly, ihrer Schönheit, ihrem Leben und ihrem Tod.

Verrückt, neben sich stehend, sich in eine Fantasiewelt stürzend, sind wir so nicht alle auf die eine oder andere Art und Weise? Die Schnelllebigkeit der Zeit, macht sie nicht aus uns allen irgendwie Getriebene? Und sind nicht unsere Träume und Fantasien der einzige Zufluchtsort, der noch bleibt? Ein Ort, an dem wir auch wild um uns schlagen, schreien und herumballern können, wenn uns danach ist?

Wenn die Stärke zur Schwäche wird

„Eigentlich ist Fantasie etwas sehr Positives“, sagt Carole Lorang. „Doch wenn die Fähigkeit des Menschen, durch seine Fantasie über sich hinauszuwachsen, in einem geschlossenen Kreis, in einem Kokon, passiert, dann kann dies gefährlich werden. Denn dann fehlt der Austausch“, führt Mani Muller den Gedanken zu Ende. Dann wird die Stärke der Fantasie schnell zu einer Schwäche, die von anderen benutzt und missbraucht werden kann.

Diese Rolle fällt in dem Stück Pitt Simon zu. Er spielt Teddy, den Schwiegersohn, selbst ziemlich leer, mit wenig Selbstwertgefühl ausgestattet, der seine Unsicherheit in Wut verwandelt und die Schwächen von Paule immer stärker ausnutzt. „Er ist kein großer Stratege“, erklärt Carole. „Er ist einfach da und kann in die Familie einbrechen.“ Auf den ersten Blick möge es vielleicht so aussehen, dass das Böse von außen komme, doch könne die wirkliche Gefahr erst dadurch entstehen, dass im Inneren bereits etwas nicht stimme.

Natürlich könne man dies auf unsere Gesellschaft übertragen, meint Mani Muller. In vielerlei Hinsicht. Ein Teil unserer Jugend zum Beispiel werde von Islamisten manipuliert. Es wäre jedoch zu einfach, diese Jugend als Opfer einer reinen Bedrohung von außen zu sehen. Wir hätten auch etwas falsch gemacht. Unsere Gesellschaft sei mitverantwortlich, dass diese Menschen überhaupt zu Außenseiter wurden, bevor sie dann Opfer und letztendlich Täter werden konnten …

Es ist wieder viel drin in der Arbeit von Carole Lorang und Mani Muller. Das merkt man bereits an einem kurzen Vorgespräch. Wieder werden Text und Inszenierung allegorische Lesarten zulassen.
Der Zuschauer kann, wenn er will, sicher soziale und politische Lesarten bei der Aufführung finden. Nicht mit der Moralkeule, sondern subtil und mit Frank-Sinatra-Klängen werden Mani Muller und Carole Lorang uns etwas über unsere Zeit und sicher auch über uns selbst erzählen.

Wenn wir aneinander abgleiten

Über Familien, diese Gesellschaften in Miniaturform, in denen die Mitglieder immer häufiger aneinander abgleiten, in denen die Kommunikation nicht mehr funktioniert, da die Zeit fehlt und jeder versucht, sich selbst zu retten.

Doch meist vergebens. Denn der Alltag, sein Rhythmus, seine Schnelllebigkeit, seine Gesetze, sie holen uns immer wieder ein.
Außer im Theater vielleicht. Dort erlauben wir uns eine Pause, einen Rückschritt, ein Innehalten. Theater entschleunigt. Und Theater kann sogar dabei helfen, dass sich unsere Fantasien und Träume nicht mehr nur um Mord, Terror und Totschlag drehen …