Vergeben und vergessen?

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Der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Eine junge Frau kehrt aus dem Konzentrationslager zurück. Sie hat überlebt, weil sie nach einem Kopfschuss für tot gehalten wurde. Schwer traumatisiert und mit einem zerstörten Gesicht kehrt sie zurück ins Leben.

Es ist der Moment der Wahrheit, auf dem der Film beruht. Nelly (Nina Hoss) singt Kurt Weills „Speak Low“ und Johnny (Ronald Zehrfeld) begleitet sie am Klavier. So, wie er es früher auch getan hat. Vor dem Krieg. Bevor Nelly als Jüdin ins Konzentrationslager verschleppt wurde. Die plastische Chirurgie hat ihr ein neues Gesicht gegeben. Aber es ist nicht ihr eigenes. Denn Johnny hat sie nicht wiedererkannt.

Allerdings bringt ihn die vage Ähnlichkeit der Unbekannten mit seiner tot geglaubten Frau, die er möglicherweise an die Nazis verraten hat, auf einen geradezu teuflischen Plan.

Mit der Hilfe der Fremden will er an das Erbe seiner mutmaßlich verstorbenen Ehefrau herankommen. Mit Pariser Schuhen, einem eleganten roten Seidenkleid und gefärbten Haaren macht er aus der „rekonstruierten“ Nelly seine angebliche Vorkriegsfrau. Scheinbar unbeschadet, in ihrer alten Schönheit, lässt er sie aus dem Lager zurückkommen. Zu ihm, zu den Freunden, zu ihrem Geld. Aber als sie neben ihm am Klavier steht, kommt der Moment der Erkenntnis.

Unter die Haut

Die Szene lässt einen den Atem anhalten. Auf dem Festival von Toronto, wo der Film am 5. September Weltpremiere feierte, hat das Publikum klar Partei ergriffen und hat applaudiert.

In Europa – der Film ist vor einer Woche in Deutschland angelaufen – wird zu solch dramatischen Szenen generell nicht geklatscht. Selbst 70 Jahre nach der Rückkehr der Deportierten geht das Thema dafür noch immer viel zu sehr unter die Haut. „Wir haben nicht erzählt, was wir erlebt haben. Es hat uns eh keiner geglaubt“, sagen die wenigen überlebenden Deportierten selbst heute noch.

Die Fragen nach dem Neubeginn, nach der neuen Identität der Menschen, die durch die Hölle gingen, bleiben offen. Nicht umsonst haben sich die Überlebenden der KZs jahrzehntelang schwergetan, bevor sie über das Erlebte sprechen und die nachfolgenden Generationen aufklären konnten.

In Deutschland wurde auch lange darüber diskutiert, ob und wie man den Genozid im Film darstellen kann, ob man das Unvorstellbare überhaupt in einen Spielfilm verpacken darf.

Tabuthema

In „Phoenix“ stellt Christian Petzold den Holocaust mit den Mitteln des Melodrams und des Film noir dar.

Der Krieg und die Vernichtung sind nicht die Hauptteile der Handlung, sondern Hintergrund für eine Geschichte, bei der es um Begehren und Betrug geht, um Verführung und Manipulation, um den Umgang mit dem Verrat und dem Verzeihen. Mit der Frage ums Vergessen.

„Phoenix“ ist ein fesselnder Film mit zwei großartigen weiblichen Darstellerinnen. Neben Nina Hoss brilliert Nina Kunzendorf in der Rolle der Lene, die Nelly im Auftrag der „Jewish Agency“ ins Leben zurückholt und deren Zukunft in Palästina vorbereitet.

Auch die Doppelbödigkeit der Geschichte interpelliert den Zuschauer, der Nelly in ihrem abstrusen Spiel wachrütteln möchte und gleichzeitig immer wieder die Frage im Hinterkopf hat, ob ein Mann seine Frau tatsächlich nicht erkennen kann. An ihrer Stimme, an ihren Gesten, an ihrem Geruch. So wie der Film mit der Identität umgeht, gelingt ihm eine differenzierte Reflexion über das Erbe des Holocaust und den Umgang mit seinen Opfern.