Deutscher BuchpreisSaša Stanišić über seine „Herkunft“

Deutscher Buchpreis / Saša Stanišić über seine „Herkunft“
Für „Herkunft“ erhielt Saša Stanišić den Deutschen Buchpreis

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Ein „Selbstporträt mit Ahnen“ sowie ein „Porträt meiner Überforderung mit dem Selbstporträt“ zeichnet Saša Stanišić in seinem autobiografischen Buch „Herkunft“. Als Reflexion über das Erzählen der eigenen, gebrochenen Identität überzeugt es, seinen Gegenwartsbezug hebt es jedoch recht krude hervor.

Von unserem Korrespondenten Jeff Thoss

Es war und ist der Literaturstreit dieses Jahres: Der für seine Haltung zu den Jugoslawienkriegen vielfach geächtete Peter Handke erhält den Literaturnobelpreis. Der bosnischstämmige Saša Stanišić erhält wenige Tage später den Deutschen Buchpreis und kritisiert in seiner Dankesrede die Entscheidung aus Schweden. Konkret geht um Handkes Reisebericht über Višegrad (in „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise“, 1996), von wo Stanišić mit seinen Eltern 1992 kurz vor dem Massaker an der bosniakischen Bevölkerung geflohen war.

Diese Flucht ist auch Thema des preisgekrönten Werks, „Herkunft“. In seiner Rede hatte Stanišić dem Nobelpreisträger die Leugnung der Wirklichkeit und Lüge vorgeworfen, wo dieser sich zuvorderst auf die mediale und vor allem sprachliche Darstellung des Massenmords bezog. So fragwürdig Handkes Text auch sein mag, so ließ die Reaktion darauf ebenjene Nuancen vermissen, die „Herkunft“ auszeichnen. Es handelt sich dabei um ein Buch, das eine der großen Stärke der Literatur nutzt und Fragen stellt, deren Antworten die Gesellschaft schon immer zu wissen glaubte.

My own adventure

Die Frage nach der Herkunft kann Sasa Stanišić erst mal nur im Plural beantworten: Es gibt das Städtchen an der Drina, Višegrad, seinen Geburtsort; es gibt das in den Bergen gelegene Oskoruša, aus dem die Familie stammt und auf dessen Friedhof ein Stanišić neben dem anderen liegt; und es gibt, Heidelberg wo der vierzehnjährige Saša ankommt, um seinen mühsamen Weg vom „Jugo“ mit Häkchen auf dem Namen zum angehenden (deutschsprachigen) Schriftsteller zu gehen.

„Jedes Zuhause ist ein zufälliges“, stellt der Erzähler klar, und so führt die Suche nach dem Ursprung nicht an ein Ziel, sondern durch immer neue Möglichkeiten hindurch. Stanišićs Text springt zwischen Orten und Zeiten hin und her, lässt Erzählstränge fallen, um sie nach vielen Umwegen wieder aufzunehmen. Zeitweise setzt er sogar die nicht-lineare Erzählweise um, die der jugendliche Saša in den „Choose Your Own Adventure“-Büchern kennengelernt hatte: „Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens. My own adventure.“

Zugehörigkeitskitsch und Sprachquellen

„Herkunft“ ist ein episodisches Werk, und so überzeugt es auch am meisten in einzelnen, oftmals tragikomischen Momenten. In ihrer Heidelberger Wohnung leben die Stanišićs ohne Vorhänge, da sie beständig die Abschiebung fürchten. Sozialisiert wird der Erzähler derweil gemeinsam mit anderen Geflüchteten an einer Tankstelle: „Heidelbergs innere Schweiz: neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war.“ Bei einer späteren Reise nach Oskoruša wird der Heimkehrer gebeten, Wasser aus einem Brunnen zu trinken, den sein Großvater einst ausgehoben haben soll. Die Symbolik dieser Handlung schiebt er schnell als „Zugehörigkeitskitsch“ beiseite.

Am berührendsten ist „Herkunft“ sicherlich in seiner Darstellung von Stanišićs Großmutter Kristina, die der Erzähler regelmäßig zu ihren Erinnerungen befragen möchte. Aufgrund ihrer fortschreitenden Demenz fruchtet dieses allerdings immer weniger; dies ist auch ein Werk unaufdringlicher Trauerarbeit. Das Buch ist insgesamt getrieben von der Erkenntnis, dass das Erzählen zwar keine endgültigen Gewissheiten bringt und dennoch die einzige Möglichkeit darstellt, über Herkunft, Identität und Lebensläufe überhaupt etwas zu sagen. So heißt es im Rückblick auf die Brunnen-Episode: „Der Geschmack des Brunnenwassers ist aus Sprache gemacht. Die Sprache wird weiterfließen. Einer überleben, um zu erzählen.“

Die Balkanisierung Europas

Wo Stanišić versucht, aus seinen Geschichten Lehren für die Gegenwart zu ziehen, wird es jedoch schnell zu einfach. „Herkunft“ wird von angedeuteten historischen Parallelen durchzogen: einerseits zwischen dem Zerfall Jugoslawiens und der aktuellen Situation Europas, andererseits zwischen der Situation der Geflüchteten im Deutschland der 1990er und heute. „Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem zersetzenden Potenzial des Nationalismus nicht länger stand“, heißt es etwa in einer Passage über Jugoslawien mit deutlichen EU-Anklängen. Nur, so geeint wie Titos sozialistische Föderation war die EU nie. So bleibt es bei diffusen Ähnlichkeitsbehauptungen.

Gelegentlich hebt der Erzähler auch den moralische Zeigefinger: „Welten vergehen, stellt man sich denen, die sie vergehen lassen wollen, nicht früh und entschieden in den Weg. Heute ist der 21. September 2018. Wäre am nächsten Sonntag Bundestagswahl, käme die AfD auf 18% der Stimmen.“ Saša Stanišić kommt auch ohne die mahnenden Worte eines Großschriftstellers à la Grass aus – das Gros von „Herkunft“ beweist es.

Info

Saša Stanišić: Herkunft. Luchterhand, München 2019. 368 Seiten. 22,00 €.