Buchkritik„Über Menschen“: Ich bin etwas Besseres als du – oder nicht?

Buchkritik / „Über Menschen“: Ich bin etwas Besseres als du – oder nicht?
Schriftstellerin Juli Zeh Foto: dpa/Soeren Stache

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In ihrem neuen Roman entführt die Bestsellerautorin Juli Zeh ihre Leser und Leserinnen erneut in die brandenburgische Provinz: Bracken heißt das fiktive Dorf in der Prignitz, in dem die Handlung von „Über Menschen“ angesiedelt ist. Ein Ort, an dem sich Probleme wie Rechtsextremismus, Rassismus und Klimawandel ballen und mit denen sich die neue Dorfbewohnerin Dora konfrontiert sieht. Die Corona-Pandemie macht der ehemaligen Stadtbewohnerin den Start in das Landleben nicht zwingend einfacher. Ein mit Klischees und Stereotypen überladener Dorfroman nimmt seinen Lauf.

Frühling 2020: Dora rammt gerade ihren Spaten in die Erde und versucht verzweifelt ihr Gemüsebeet anzulegen, wobei sie sich kaum ungeschickter anstellen könnte. Zehs Protagonistin macht dem Klischee der Großstadtbewohnerin, die dringend einfach mal rausmusste, alle Ehre – auch wenn die Mittdreißigjährige sich selbst nicht als „typischen Großstadtflüchtling“ sieht. Freilich hegte sie den Wunsch, Berlin zu verlassen, schon etwas länger, doch der coronabedingte Lockdown war letztlich der entscheidende Auslöser für ihren Umzug in das kleine ländliche Bracken – ein Dorf, das wie „eine Mischung aus Brachen und Baracken“ klingt.

Ihr krisenfixierter Freund Robert, Journalist und Umweltaktivist, mit dem sie sich vor ihrer Landflucht eine Wohnung in Berlin teilte, hat sich seit dem Beginn der Pandemie nicht nur zum besserwisserischen Corona-Experten entwickelt, sondern ist zum wahrhaftigen Untergangspropheten, zum Corona-Apokalyptiker mutiert. Glaubte er in Vor-Corona-Zeiten als der wohl größte Verfechter Greta Thunbergs jeden seiner Mitmenschen bezüglich des Umweltschutzes etwas Besseres belehren zu müssen, macht er ihnen nun mit seinen Kassandrarufen im Hinblick auf die sich zuspitzende Pandemie Bange. Dabei ist das, was Robert praktiziert, ein regelrechter Dramenerguss: Er ist derart überkorrekt, dass er Dora sogar verbietet, mit ihrer Hündin namens Jochen-der-Rochen spazieren zu gehen. Dass Dora ihn seither nur noch spöttisch als „Robert Koch“ betitelt (die Anspielung auf das Robert-Koch-Institut ist kaum zu übersehen) und schnellstmöglich das Weite sucht, ist Zehs Protagonistin kaum zu verdenken.

Clash of Civilizations

Das Leben auf dem Land birgt für Dora jedoch weitaus mehr Probleme als das grassierende Coronavirus. Während ihrer Arbeit im Home-Office als Angestellte einer nachhaltigen Werbeagentur – bevor ihr schließlich coronabedingt gekündigt wird und sie sich mit ihrer Arbeitslosigkeit auseinandersetzen muss – merkt sie erst, wie allein sie tatsächlich ist. Doch als progressive, umweltbewusste und politisch korrekte Berlinerin hat sie im eher rückständigen Bracken, wo selbst nur alle paar Stunden ein Bus zum Einkaufszentrum fährt und deswegen alle das Auto nehmen, auch einige Integrationsschwierigkeiten.

Gegenüber wohnt ein Rassist, der mit einer „Achtung, Serien-Griller“-Schürze herumläuft und nebenan der selbsternannte Dorf-Nazi namens Gote, der gerne mal „Linke klatscht“. Für Dora alles Lebensauffassungen, die mit ihren Werten unvereinbar sind – ein Zusammenprall der ländlichen und städtischen Kultur scheint unausweichlich. Dass sich gerade zwischen ihr und ihrem rechtsradikalen Nachbarn, der mit seinen Freunden im Garten gerne mal das Horst-Wessel-Lied singt, so etwas wie eine ungewollte Freundschaft entwickelt, ist selbst für Dora ein harter Brocken.

„Übermenschen im Unterhemd“

Mit dem Neonazi Gote entwickelt Juli Zeh eine weitere zentrale Romanfigur, mit der sie nicht nur auf den gegenwärtigen Rechtsradikalismus in Deutschland aufmerksam macht, sondern auch auf den verwerflichen menschlichen Narzissmus und Hochmut. Nicht zuletzt knüpft die Autorin mit ihrem Romantitel auch an Nietzsches Übermensch-Konzeption an, wobei sich die selbsternannten Idealmenschen der heutigen Zeit im Unterhemd hinterm Bauwagen das Bier in den Hals kippen und vor der Reichsflagge salutieren.

Im Allgemeinen manifestieren sich in Zehs Roman mehrere Übermenschen jeglicher Art. Während Robert sich mit seiner Besserwisserei sowieso allem und jedem überlegen fühlt, ist Gotes Rassendenken das wohl Anstößigste überhaupt. Ironischerweise wird sogar Dora, die doch ausgerechnet vor Roberts rechthaberischer und hochmütiger Art und Weise flüchtet, von diesem Überlegenheitsgefühl eingenommen, wenn sie Gote ins Gesicht brüllt, dass sie etwas Besseres sei als er. Gewiss zeigt diese Szene, dass das Gefühl des Hochmuts schließlich jeden treffen kann – wenn auch unbeabsichtigt.

Corona ist nebensächlich

Auch wenn die Pandemie und der erste Lockdown nur den Rahmen für die Erzählung bilden und somit auch keine omnipräsenten Themen sind, darf man Juli Zehs „Über Menschen“ als ersten deutschen Corona-Roman bezeichnen, auf den zweifellos noch einige folgen werden. Ob einem das nun gefällt oder nicht, sei mal so dahingestellt. Fest steht aber: Literatur dient nicht der alleinigen Unterhaltung, sondern sie nützt auch der Verarbeitung von Krisen- und Umbruchzeiten, sie stellt politische Probleme infrage und setzt sich mit ihnen auseinander, wie es schließlich auch Zehs neuem Roman gelingt – wenn auch nur oberflächlich.

Nichtsdestotrotz schafft es die Autorin, diese schwer verdauliche Kost wie Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit, aber auch Umweltschutz und Arbeitslosigkeit mit einer leichten und angenehmen Sprache zu ummanteln, unterdessen sie einige Punkte grundsätzlich etwas tiefgründiger hätte behandeln können. Doch das ist vielleicht auch nicht der Anspruch, den der Roman an sich selbst stellt. Dafür entpuppt sich der Text im Nachhinein als viel zu versöhnlich, ja gar schon utopisch, wobei er trotzdem mit massiv überholten Klischees und Stereotypen spielt. Der Roman vermittelt seiner Leserschaft dennoch die etwas überholte Message, dass wir Menschen in unserem Inneren letztlich doch alle irgendwie gleich verkorkst sind.

Juli Zeh knüpft mit ihrem rezentesten Werk an ihren gelungen Gesellschafts- und Dorfroman „Unterleuten“ (2016) an. Beide Texte spielen sich in der brandenburgischen Provinz ab, zeichnen das Leben jenseits der großen Stadt. Anders als in „Unterleuten“ ist das Personal in „Über Menschen“ überschaubar und die Fokalisierung nicht multiperspektivisch – es wird stets aus Doras Sicht berichtet. Ob „Über Menschen“ mit dem Erfolg von „Unterleuten“ mithalten kann, wird sich zeigen. Für eine Fernsehproduktion, wie sie für ihren letzten Dorfroman vonstattenging (der Roman wurde 2018 unter dem Titel „Unterleuten – Das zerrissene Dorf“ für das ZDF verfilmt), dürfte es allerdings ausreichen.

„Über Menschen“ von Juli Zeh, Luchterhand 2021, 416 Seiten
„Über Menschen“ von Juli Zeh, Luchterhand 2021, 416 Seiten Illustration: Luchterhand