To explain man to man and each man to himself

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Der gebürtige Luxemburger Jean Edward Steichen sowie das monumentale fotografische Werk „The Family of Man“ erfreuen sich seit Jahrzehnten internationaler Bekanntheit. Seit Steichen mit dieser Ausstellung 1955 im New Yorker MoMA den Höhepunkt seiner kuratorischen Karriere feierte, haben sich zwar nicht die Bilder selbst, dafür aber die Sichtweise auf sie verändert. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema lassen sich nun in der Publikation „The Family of Man Revisited“ nachlesen. Wir sprachen mit den Autoren Gerd Hurm und Anke Reitz.

„The mission of photography is to explain man to man and each man to himself.“ Diese Aussage tätigte Edward Steichen (laut einem lesenswerten Artikel von Anke Reitz über Steichen als Kurator in der forum-Ausgabe Nr. 366) an seinem 90. Geburtstag. Aber wie steht es heute um diese Aussage des „Familienvaters“? Und kann sie auch jetzt noch für „The Family of Man“ gelten?
Während die handwerkliche Kunst jener Fotografen und Fotografinnen, die diese Ausstellung erst ermöglichten, eher selten in Zweifel gezogen wurde in all den Jahren, debattierte man seit jeher über den Sinn, die Hintergründe sowie die mit „The Family of Man“ verbundenen Diskurse. Die amerikanische Essayistin Susan Sontag befand beispielsweise 1977, dass Steichens Werk die determinierende Wichtigkeit der Geschichte außer Acht lasse und einer der wohl größten Kritiker, der französische Philosoph Roland Barthes, warf ihm eine unzeitgemäße Mystifikation des Menschlichen und ein Übermaß an Sentimentalität vor.
Shamoon Zamir (Direktorin des Center of Photography an der New York University Abu Dhabi), Anke Reitz (Kuratorin und Hauptverantwortliche der Steichen Collections im CNA) sowie Gerd Hurm (Professor für amerikanische Literatur an der Universität Trier) haben neben diesen auch noch viele weitere Standpunkte erneut analysiert und stellen ihnen nun neue Forschungsbefunde entgegen, die eine andere, potenziell weniger widersprüchliche Betrachtung ermöglichen.

Tageblatt: Frau Reitz, Sie erwähnen in Ihrem Essay in „The Family of Man Revisited“ mehrmals die Universalität der fotografischen Sprache. Halten Sie es dennoch bis heute für schwierig, einem breiten Publikum die mit der Ausstellung verbundenen „Analyseansätze“ verständlich zu machen?

Anke Reitz: Die Ausstellung ist nach wie vor für jedes Publikum erfahrbar und deutbar (jeder auf seine Weise) – auch ohne jede Vorkenntnisse. Die universelle Verständlichkeit und die Zeitlosigkeit in der „Family of Man“ waren jedoch vor allem Wünsche, die Steichen mit seinem Ausstellungskonzept verbunden hat und die auch, bis zu einem gewissen Punkt, funktionieren können. Aber sobald man von einer Sprache spricht, so bedeutet dies natürlich auch, dass die Informationen kodiert zu uns kommen und man die Sprache sprechen muss, um die Informationen zu deuten. Bei der Fotografie scheint es oft so, dass die Sprache und Bedeutung der Bilder „natürlicher“ seien, da die Abbildung an einen Moment, an einen Ausschnitt der Realität gebunden ist.

Was bei Steichen dazukommt, ist seine kinematografische Erzählweise in der Ausstellung, die dazu führt, dass die Fotografie nicht mehr mit ihrem ursprünglichen Kontext verbunden ist, sondern thematisch mit den anderen Bildern auf den Besucher wirkt und auch so gelesen wird.

Ist es möglich, das Grundnarrativ der Ausstellung kurz zu beschreiben? Oder verlaufen hier gleich mehrere Erzählstränge nebeneinander?

Gerd Hurm: „The Family of Man“ führt eindrücklich vor Augen, was die Menschheit durch Krieg und nukleare Zerstörung verlieren könnte. Die wichtigste Erzählung der Fotoinstallation ist demnach eine pazifistische: Was können wir Menschen verlieren, wenn wir nicht den nächsten Atomkrieg verhindern? Indem die Ausstellung die Freuden des Alltags in das Zentrum stellt, zeigt die Ausstellung im positiven Sinne, welchen großen Verlust die Menschheit durch weitere Gräueltaten erleiden könnte. Steichen hatte schon mehrere Anti-Kriegs-Ausstellungen davor gestaltet. Er dachte, er sei damit gescheitert. Deshalb betonte er die Lebensfreuden im Alltag. Das damit verbundene Narrativ ist durchaus auch ein politisches und feministisches: Das Persönliche ist das Politische. Der erste Teil der Ausstellung widmet sich eher dem persönlichen, der zweite eher dem politischen Bereich.

Verbleibt das Narrativ in einem zu starren Zustand, wenn sich nur an die „installation instructions“ gehalten wird? Wie viel Freiheit kann man sich diesbezüglich als Kuratorin nehmen?

A.R.: Die „installation instructions“ gehören vor allem zum Werk an sich: Die Zusammenstellung der „Family of Man“ und die Weise, wie die Werke in Dialog stehen, sind maßgebend für die Narration, die sich daraus entfaltet und in dem Sinne auch von Steichen vorgegeben.

Steichen hat oft von der „Family of Man“ als seinem Lebenswerk gesprochen und so wird es heute als Gesamtkunstwerk gesehen. Demzufolge gehört die Szenografie zum Werk und dies können und möchten wir in unserer historischen und wissenschaftlichen Herangehensweise im CNA nicht ignorieren.

Natürlich ist es so, dass, auch während der Etappen der Weltreise, die verschiedenen Museen einige Freiheiten haben mussten, um die Ausstellung den lokalen Gegebenheiten und Räumlichkeiten anzupassen. Diese haben wir auch in Clerf genutzt, doch immer mit dem Gedanken, der ersten historischen Installation so nahe wie möglich zu kommen, um dem geschichtlichen Werk gerecht zu werden und den Besuchern eine Erfahrung zu bieten, die an die des Originals erinnert.

Die kuratorische Freiheit oder ich würde eher sagen Interpretation bezieht sich in diesem Fall auf die Wiedergabe der Ausstellung, in den Räumlichkeiten und vor allem auch in dem wissenschaftlich-historischen Rahmen, in dem sie gezeigt wird. So haben wir z.B. eine App für den Besucher entworfen, die diesen mit einer Vielzahl an historischen Informationen und Interpretationsmöglichkeiten versorgt. Des Weiteren gibt es eine Museumsbibliothek, die ebenfalls den Blick auf die Sammlung, Steichens Ansatz und die einzelnen Fotografen erweitert. Auch wissenschaftliche Publikationen wie „The Family of Man Revisited“ gehören zu diesem Rahmen.

Erzählt die Ausstellung heute mit den gleichen Bildern eine ganz andere Geschichte? Wie aktuell ist die Ausstellung noch?

G.H.: Edward Steichen war sich der Macht des Kontextes bewusst. Die Offenheit seiner Ausstellungskonzeption spiegelt auch seine Auffassung, dass Geschichte unvorhersehbar und deshalb der Gang der Geschichte offen sei. Sein pazifistischer Appell ist heute noch so aktuell wie zu Zeiten des kalten Krieges.

A.R.: Die Ausstellung ist ein Produkt ihrer Zeit und sie ist auch mit Edward Steichens persönlicher Geschichte und seinen Erfahrungen eng verwoben. Steichens Erzählung traf in den 50er- und 60er-Jahren einen ganz bestimmten Nerv bei der kriegserprobten Bevölkerung. Dieser Kontext ist nun heute anders und das Bild z.B. der Wasserstoffbombe in der Ausstellung wird somit anders gedeutet und verweist auf eine Geschichte, die der jungen Generation relativ fern und abstrakt scheint.

Doch die Ausstellung hat in ihrer Menschlichkeit schon etwas, was sie über die Zeit fast universal wirken lässt: Die Besucher identifizieren sich mit den abgebildeten Personen und verbinden eigene Erinnerungen mit den Fotos. In dem Sinne interpretiert jeder die „Family of Man“ anders und kommt auch mit anderen Erinnerungen aus dem Museum heraus.
Steichen wollte mit seiner Vision der Menschheit eine friedliche Botschaft vermitteln. In den Reaktionen unserer Besucher sehen wir, dass genau das immer noch anschlägt – in der Welt und in den Nachrichten beobachten wir, dass weder die Kunst noch die Politik es bis heute geschafft haben, eine friedliche Welt zu schaffen und zu erhalten …

Hat es einen starken Einfluss, dass das Publikum heute eine ganz andere Toleranzgrenze entwickelt hat, was das Sehen von Bildern angeht? Erschwert hier Abstumpfung eventuell die Empathie?

A.R.: Ja und nein … Heute hat das Publikum andere Sehgewohnheiten in Museen und auch im Alltag. Doch wenn wir z.B. von den Sehgewohnheiten im Museum ausgehen, so stellen wir doch fest, dass die Besucher immer wieder von Steichens Installation überrascht sind und sie sich dann neu darauf einstellen und einlassen müssen. Man hat die Ausstellung oft mit der Erzählung der Bildmagazine, wie z.B. Life, verglichen und Steichen entfaltet seine Geschichte auf ganz natürliche und unbemerkte Weise; der Einstieg fällt leicht. Ins Museum gehen ist ja auch eine Aktivität, die man oft bewusst einplant – außerhalb des Alltags – und in der dann auch das Gefühl für Zeit und Raum ein anderes ist und man (vielleicht) mal für ein bis zwei Stunden das Handy beiseitelegt (das hoffen wir zumindest).

Für manche Menschen in den 1950er- und 60er-Jahren waren die Bilder der „Family of Man“ eine Entdeckung, wie Menschen in anderen Teilen der Erde leben. Dies ist heute natürlich nicht mehr der Fall.

Abstumpfung erschwert die Empathie, doch dies wird oft in Zusammenhang gesetzt mit Bildern, die einen gewaltsamen Hintergrund haben und wir nun täglich in den Nachrichten sehen. Funktioniert die Abstumpfung auch mit den positiven Dingen oder sind wir dort bereit, sie immer aufs Neue an uns heranzulassen? Die Bilder der Sammlung stechen aus unserem heutigen Alltag hervor und in der beeindruckenden Installation fällt es dem Besucher sehr schwer, sich nicht mitreißen zu lassen.

G.H.: Meine Erfahrung mit Studierenden zeigt, dass sie sehr wohl auf diese Bilder reagieren und sich differenziert dazu äußern können. Wichtig ist die Haltung, mit der ich die Bilder betrachte. Indem ich verschiedene Kontexte anbiete, gehe ich auf die gestalterische Offenheit der Installation ein.

Frau Reitz, für Sie als Kuratorin, die sich schon lange sehr intensiv mit den Werken auseinandersetzt: Lesen auch Sie sie immer wieder auf ein Neues anders?

A.R.: Es beides: Manchmal ist man einfach zu nahe dran und die Bilder sind zu sehr Teil des eigenen Alltags, damit man von alleine auf eine andere Deutung kommt. Doch, wie so oft, braucht es nicht viel, nur eben den Dialog: mit anderen Bildern, mit anderen Ideen und Menschen oder neuen Dokumenten, um neue Perspektiven auf vermeintlich Altbekanntes zu eröffnen. Dies sind für mich immer sehr erfrischende Momente, von denen ich weiß, dass es potenziell noch viele davon gibt.

Die lange Geschichte von „The Family of Man“ bedeutet wie nun schon angesprochen auch eine lange Rezeptionsgeschichte. Wie hat sich diese vor allem auf wissenschaftlicher Ebene im Laufe der Zeit verändert?

A.R.: Die Rezeptionsgeschichte der Ausstellung war seit der ersten Präsentation im MoMA von einer Kluft geprägt, die sich heute auch noch im Diskurs wiederfindet: die populäre Rezeption, die international weitgehend positiv und enthusiastisch ist, und die wissenschaftliche, die eine lange Zeit von der Kritik von Roland Barthes geprägt war (und auch von der Kritik einiger Fotografen).

Es ist auch oft so, dass eine gewisse Zeitspanne vergehen muss, bevor sich die Wissenschaft erneut einem Thema widmen kann, mit der notwendigen Distanz. Und so war die Zeit nun reif für die neue Publikation, die Wege aufzeigt, aus dieser Kluft auszusteigen, die Rezeption zu differenzieren, neu zu beleuchten und so auch Kritiker und andere Besucher dazu aufzufordern, noch einmal genauer hinzusehen – und so festzustellen, dass die „Family of Man“ ein sehr komplexes Geflecht mit mehreren Ebenen ist.

G.H.: Was unser Band versucht, ist, die Ausstellung wieder in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Lange Zeit hatten Kritiker nur den Katalog als Dokument der Ausstellung. Auch wenn der Katalog wunderbare Fotografien umfasst, bildet er nicht die Vielschichtigkeit der Ausstellung ab. Im Katalog fehlt zudem aus unerklärlichen Gründen das zentrale Bild der Explosion einer Wasserstoffbombe.

A.R.: Die Ausstellung zu sehen und sie zu erfahren, körperlich und emotional/psychologisch, ist ein wichtiger Prozess in der Analyse, der meiner Meinung nach grundlegend ist. Alle Autoren des neu erschienenen Buches haben die Erfahrung der Ausstellung gemacht.

G.H.: Ebenso hat sich in letzter Zeit der Diskurs in den Bildwissenschaften zu realistischer Fotografie verändert. Eine Kritikerin wie Susie Linfield betonte, dass das Kunstwerk selbst zu seiner Wirkung befragt werden sollte. Sie stellte sich damit gegen Aussagen von Susan Sontag, die behauptete, dass man aus einer Fotografie nie irgendetwas werde verstehen können. Für Linfield ging es darum, dass die Fotografien ihre eigene kreative Kraft entwickeln können.

Herr Hurm, Sie haben sich besonders mit Roland Barthes beschäftigt. In Ihrem Text werden seine Standpunkte dargelegt, die lange als wichtige Referenz galten. Kann eine Prädominanz eines bestimmten Kritikers den Blick auf ein Werk verstellen, denn Barthes hat es ja Ihrer Auffassung nach verpasst, seinen eigenen „cultural and historical bias“ zu reflektieren. Er scheint trotzdem viele andere mit seiner Meinung „angesteckt“ zu haben …

Gerd Hurm: Bei der Deutung durch Roland Barthes, dessen Buch „Mythen des Alltags“ ich sehr schätze, dessen darin enthaltener Aufsatz zur „The Family of Man“ jedoch sehr fehlerbehaftet und irreführend ist, muss als besonders ärgerlich konstatiert werden, dass er über die politische Dimension der Ausstellung hätte schreiben können, da er das Bild der Wasserstoffbombe in Paris hätte sehen können, dies aber aus irgendwelchen Gründen nicht tat.

Immer mehr Kollegen schließen sich dem Verdacht Jacqueline Guittards aus dem Jahr 2006 an, dass er die Ausstellung wohl gar nicht oder nur teilweise gesehen habe. Da sein Buch schnell ein Klassiker der Kulturwissenschaften wurde, verbreitete sich so seine fatal falsche Deutung der Ausstellung. Unser Band will mit der Hilfe anderer Publikationen der letzten Jahre einen Paradigmenwechsel einleiten. Es soll die Luxemburger Ausstellung, ein weltweites Unikat, wieder ins Zentrum der Diskussion gestellt werden.

Sie erwähnen in der Intro „cultural propaganda“, der die Ausstellung in ihren Anfängen zum Opfer fiel. Wäre ein derartiger Missbrauch auch heute noch denkbar?

G.H.: Edward Steichen war sich sehr wohl der Bedeutung des Kontextes bewusst, aus seiner Arbeit als Konzeptkünstler, Ausstellungsmacher und Redakteur. Fotos konnten für ihn Propaganda werden, mussten es aber nicht von vorneherein sein. Seine offene Konzeption der Ausstellungsarchitektur wirkt einem Missbrauch entgegen, kann diesen aber letztlich nicht ausschließen.

Richtet sich Ihre Publikation nur an Kenner und Wissenschaftler?

G.H.: Unser Band richtet sich sowohl an die Fachwissenschaftler der verschiedenen Disziplinen, die sich mit diesem intermedialen Kunstwerk auseinandersetzen, wie auch an Fotografen und interessierte Laien. Der Band umfasst Briefe, Zeitungsartikel und Gedichte neben dem Schwerpunkt der wissenschaftlichen Interpretationen. Diese sind Hilfestellungen für die Besucher. Das prägende Merkmal der Ausstellung ist, dass sie für alle Besucher gedacht ist und jeder und jedem die Möglichkeit bietet, sich die Ausstellung selbst zu erschließen.

Oftmals wurde diese Popularität, dieser große Zuspruch zur Ausstellung, die alle Rekorde für Fotografieausstellungen brach, gegen sie verwendet. Man nannte die Ausstellung einfach „Blockbuster“ und musste sich nicht mehr mit ihrer Komplexität auseinandersetzen. Diesem Argument kann jedoch mit einem Argument aus der Shakespeare-Forschung begegnet werden. Shakespeares Kunst ist gerade große Kunst, weil sie das breite Publikum genauso ansprach wie auch die Theaterkenner. Allerdings wurden Shakespeares Werke zunächst auch lange nicht als große Kunst gesehen.

A.R.: Die Publikation reiht sich ein in die Rezeptions- und Analysegeschichte der „Family of Man“ und in manchen Texten werden z.B. Verweise auf frühere Artikel gemacht. In dem Sinne wird sich ein „Kenner“ leichter in die verschiedenen Sichtweisen einarbeiten können. Andererseits kann man als „Neuling“ natürlich immer an einer Stelle starten und dann selbst entscheiden, ob man nun diese Ansätze weiter verfolgt und tiefer in die Geschichte hinabsteigt (zeitlich).