LuxemburgensiaStarkes Band, schwacher Text: „Ein starkes Band“ von Maryse Krier

Luxemburgensia / Starkes Band, schwacher Text: „Ein starkes Band“ von Maryse Krier
Die Autorin Maryse Krier

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Maryse Kriers Novelle „Ein starkes Band“ handelt von einer gescheiterten Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen. Der Text ist formal bemüht, die Figurenzeichnung flach, die Handlung vorhersehbar und das Lektorat schlampig, sodass das Interesse an der an sich interessanten, mit literarischen Referenzen gespickten Erzählung schnell abflacht.

Unverhofft trifft Emma Becker (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen französischen Schriftstellerin, die in „La maison“ über ihre zweijährige Erfahrung als Berliner Prostituierte schreibt) in Esch/Alzette auf die Doppelgängerin ihrer damaligen besten Freundin Nelly Smith, die nach dem Abi spurlos verschwunden ist. Die Begegnung lässt Emma keine Ruhe – fortan geht ihr die Freundschaft mit Nelly, der rebellischen Querdenkerin, nicht mehr aus dem Kopf. Emma beschließt, herauszufinden, was Nelly damals dazu bewegt hat, urplötzlich nach England auszuwandern und sich nie wieder bei ihrer besten Freundin zu melden.

Zwei Geschenke von Nelly – ein Armband und ein Haarreif – müssen dabei als proustianische Madeleines herhalten, die immer wieder neue Erinnerungen hervorrufen: Nellys Abneigung gegen Umarmungen, Emmas Beziehung zu Jeff, eine Klassenreise in England, die Post-Abi-Reise nach Lloret de Mar, Nellys Begeisterung für Kunst und Literatur. Emmas Reise in die Vergangenheit führt sie nach London, wo sie Nellys Schwester Peggy begegnet und dem Geburtshaus von Jane Austen einen Besuch abstattet, und Villefranche-sur-Mer, wo sie die verschollene Freundin endlich wiedersieht und diese ihr gesteht, damals in sie verliebt gewesen zu sein (das ist in dem Sinne kein Spoiler-Alert, da jeder halbwegs belesene Mensch nach drei Seiten herausgefunden hat, was Sache ist).

Partner Luca kocht (manchmal auch vor Wut), fährt Motorrad und geht Kegeln, Emma unterrichtet, findet die Schulkinder unausstehlich, hat keinen Appetit und ist entsetzt, wenn sie mal bis halb neun schläft. Es ist fast schon beeindruckend, wie unkritisch die Autorin diesem durch und durch spießigen, ärgerlich langweiligen Paar und dessen peinlichen, hölzern geschriebenen Gesprächen über 90 Seiten folgt. Nach einer drögen Sexszene erklärt Emma ihrem Partner, „einen Leckerbissen wie sie müsse er genießen und nicht gleich alles auf einmal verspeisen wollen“, meist unterhalten die beiden sich dann auch über das gekochte Essen. So in etwa stellt man sich das Leben von Charles Bovary vor, hätte er eine ähnlich biedere Partnerin (und nicht Flauberts Emma) geheiratet.

Absehbar

Der Handlungsverlauf ist dabei ab der ersten Seite so absehbar, dass Emmas Blindheit auch im Falle eines willentlichen Selbstbetrugs – das scheint die Autorin nämlich zu suggerieren – nicht nachvollziehbar ist. Denn selbst, wenn Emma die Augen vor der Wahrheit verschließen möchte, versteht man nicht, wieso andere Figuren wie Peggy auf dem Schlauch stehen. So entsteht der Eindruck, dass Maryse Krier den Leser mit einer Handlungswendung überraschen will, die auf Kosten der Einfühlsamkeit geht – spätestens, wenn Emma nach London reist, verliert man endgültig die Geduld und will die Naivität (um es mal nett auszudrücken) der Figuren nicht mehr nachvollziehen.

Der ständige Perspektivenwechsel zwischen homodiegetischer und heterodiegetischer Erzählstimme, zwischen indirekter und direkter Rede wirkt so aufgesetzt, dass man denken könnte, jemand hätte in einem Workshop verschiedene Schreibtechniken ausprobiert. Zu schnell hat man begriffen, dass die figurale Perspektive immer dann auftaucht, wenn die Autorin verdeutlichen möchte, wie verloren und unsicher ihre Figur doch ist. In verschiedenen Perspektivwechseln wird Emma als „die Frau“ bezeichnet und ihr Partner als „der Mann, der Luca heißt“; der Verfremdungseffekt, der so entstehen soll und existentielle Distanzierung zum eigenen Leben darstellen will, funktioniert aber nicht, weil er zu plakativ ist.

Auch semantisch klappt so einiges nicht: Wenn Emma ihre erfolgreiche Freundin Nelly doch so sehr vermisst, wieso versucht sie nicht mal – der Roman spielt in der heutigen Zeit, bereits in ihrer Jugend waren die meisten Figuren textende Smombies – ihre verschollene Freundin, die stets eine Theaterkarriere anpeilte, zu googlen? Auch in der Figurenzeichnung lesen sich Widersprüche heraus: Freund Luca soll Emmas erster „empathischer“ Partner sein, zeigt aber keinerlei Verständnis dafür, dass seine Freundin eine existenzielle Krise durchlebt – er meckert, kocht und kegelt wie gehabt.

Widersprüchliche Figuren

Jedes einzelne Handlungselement wird in diesem doch sehr kurzen Text ständig wiederholt, der Leser wie eine unaufmerksame Schulklasse behandelt, der man den Lernstoff so lange erklärt, bis auch der schlafende Faulpelz in der letzten Reihe mitbekommen hat, was Sache ist. Während gefühlt 13 Essszenen wird gebetsmühlenartig wiederholt, wie wenig Appetit Emma hat, in gefühlt 13 Analepsen darauf gepocht, wie anders Nelly stets war – das ist nicht nur wenig subtil, irgendwann beschleicht einen das Gefühl, man wäre in einer postmodernen Endlosschleife gelandet.

Im Buch stoßen zudem nicht nur eine Reihe peinlicher Tippfehler sauer auf („Sie las bereits mit 16 Tostoi (sic!) und Flaubert“), es gibt auch verwirrende semantische Inkongruenzen: So betritt die Ich-Erzählerin auf Seite 34 die Kneipe und „sah Emma sofort“ – gemeint ist natürlich Nelly, sich selbst in Kneipen begegnen tun meist nur die Figuren in Filmen von David Lynch. Ein paar Zeilen später liest man, dass Nelly blass war – „ihr meist leicht gerötetes Gesicht wirkte fahl und grau“. Zwölf Seiten später wird von derselben Nelly behauptet, dass „ihr meist blasses (!) Gesicht (…) die Farbe einer reifen Tomate angenommen hat“. Wer auch immer beim „Verlag kleine Schritte“ für das Lektorat verantwortlich gewesen ist – hier müssen noch große Schritte gemacht werden. Das ist alles umso bedauerlicher, da im Herzen dieser Novelle eine gleichgeschlechtliche Freundschaft in Grautönen dargestellt wird, die Figur von Nelly an sich durchaus Potenzial hat – an Céline Sciammas Meisterwerk „Portrait de la jeune fille en feu“, das eine ähnliche Geschichte erzählt, kommt dieses „starke Band“ jedoch nicht heran.

Info

„Ein starkes Band“, Maryse Krier, Verlag Kleine Schritte, 2020, 90 Seiten