QuergelesenStätten wie von einem anderen Stern

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Von rätselhaften Orten, die unseren Blick auf die Welt verändern und aus der Sicht von René Oth Geografie zur Freakshow mutieren lassen.

Auch wenn die Erde allenthalben „entdeckt“ ist und es keine weißen Flecken auf der Landkarte mehr gibt, auch wenn der uralte Traum der Menschheit von neuen, reichen Ländern, Inseln der Seligen, wo die Straßen mit Gold gepflastert sind und zuvorkommende Menschen zum Verweilen einladen, längst der Vergangenheit angehört, sind auf unserem Planeten noch immer faszinierende und außergewöhnliche Orte vorhanden, von deren üppiger Vielfalt neue Sachbücher künden, in denen das unmittelbare Nebeneinander von Geist und Gewalt, die Nähe von Grausamkeit und Grusel aufhorchen lassen.

Erdkundliche Kuriositäten

In seinem beeindruckenden Werk „Die seltsamsten Orte der Welt – Geheime Städte, verlorene Räume, wilde Plätze, vergessene Inseln“ (1) bedauert der englische Autor Alastair Bonnett die immer zunehmende Ersetzung einzigartiger und spezifischer Örtlichkeiten durch generische „Blandscapes“, also austauschbare, nichtssagende Landschaften, was er als die „Ausbreitung einer unterschiedslosen Gleichortigkeit im globalen Maßstab“ anprangert.

Die sich heutzutage vergrößernde Gleichgültigkeit gegenüber der Besonderheit des Ortes findet der Professor für Sozialgeografie an der Universität Newcastle eigentlich weder intellektuell noch emotional befriedigend. Denn laut ihm ist der Ort ein vielgestaltiger und grundlegender Aspekt dessen, was es heißt, Mensch zu sein: „Wir sind eine Orte schaffende und Orte liebende Spezies.“ In unserem Inneren gieren wir förmlich danach, „Orte zu finden, die ab vom Schuss sind, die irgendwie geheim oder zumindest in der Lage sind, uns zu überraschen“.

Und so wartet der Engländer mit einer besonderen Reise auf, einer Fahrt an die Enden der Welt und auf die andere Seite der Straße, so weit er seine Leser eben entführen muss, „um dem Vertrauten und der Routine zu entkommen“. Er bricht auf in unbekanntes Terrain, zu Plätzen, die sich auf Karten nur selten oder gar nicht finden lassen, zu geografischen Abnormitäten. Aus seiner Sicht sind die attraktivsten Orte oft gerade die, die am meisten verstören, verlocken und erschrecken. Diese „tauchen auf und unter, wie die Inseln im Gangesdelta, verschwinden von Satellitenbildern, wie Sandy Island vor der australischen Küste, oder verstecken sich unter Gebüsch und Gestrüpp, das alle Spuren überwuchert, wie auf der britischen Halbinsel Arne“.

Eine grausame und verstörende Antike

Jenseits des Forum Romanum und der Akropolis in Athen stehen Randzonen und Gegenwelten des klassischen Altertums im kuriosen Mittelpunkt des rezenten Sachbuchs „Die seltsamsten Orte der Antike – Gespensterhäuser, hängende Gärten und die Enden der Welt“ (2).

Darin erzählt der Althistoriker Martin Zimmermann u.a. vom Klo der Philosophen, einer Stätte mit 44 nebeneinanderliegenden Toilettenschüsseln in der antiken zyprischen Hafenstadt Salamis, von sagenhaften Prachtlandschaften, die es wahrscheinlich nie gegeben hat, von der furchterregenden Gemonischen Treppe der geschändeten feindlichen Leichen, auf der ein unmenschliches Unterfangen unter dem römischen Kaiser Tiberius zum grausigen Volksspektakel wurde, und von den Hunden der Göttin Gula im altorientalischen Isin, die im Tempel der heilenden Holde unmittelbar in die Behandlung der Patienten einbezogen wurden, indem sie mit ihrem heilkräftigen Speichel deren Wunden ableckten und somit die bösen Kräfte der Krankheit auf sich übertrugen …

Merkwürdige Pilgerziele für Millionen

In seiner bemerkenswerten Neuerscheinung „Die seltsamsten Orte der Religionen –  Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen“ (3) lädt Johann Hinrich Claussen den Leser ein zu einer kurzweiligen Weltreise in eine andere Dimension: „Religion gibt es nicht an und für sich, sondern immer nur in einer konkreten Gestalt, als diese oder jene Religion, und das heißt auch: an diesem oder jenem Ort. Auch wenn der Geist des Glaubens weht, wo er will, sucht er doch sich zu beheimaten. Religionen sind ohne eigene Landschaften nicht zu denken: mit Bergen, auf deren Gipfeln die Götter wohnen, Flüssen, deren Wasser ewiges Leben spendet, riesigen Steinen, die vom Himmel gefallen sein müssen, Quellen, die unerklärlich aus Felsen sprudeln und Sünden abwaschen, Gräbern von Urahnen, an denen man Heilung erfahren kann.“

Religiöse Orte können es in sich haben, wie z.B. das Himmlische Jerusalem in Nkamba, Kongo, wo man nach einsamer stundenlanger Fahrt über rote Schotterpisten einen riesigen Tempel mit 37.000 Sitzplätzen erreicht, die Glaubensstadt am höllischen Highway zwischen Lagos und Ibadan in Nigeria, die mit 5.000 Häusern auf einem weiträumigen Gebiet 20.000 Einwohnern eine nicht nur religiöse Heimat bietet, oder die unglaublichste Menschenansammlung aller Zeiten in Allahabad, Indien, wo sich die beiden heiligen Flüsse Ganges und Yamuna mit dem unsichtbaren Fluss Sarasvati verbinden, an deren Ufern der Nabel der indischen Welt liegt, der Triveni Sangam …

All diese ungebärdigen Stätten, die sich Erwartungen verweigern und neue Hoffnungen schüren, haben die drei Autoren als verloren gegangene Orte, versteckte Geografien, Niemandsländer, Geisterstädte, Ausnahmeräume, Enklaven und abtrünnige Gebiete, schwimmende Inseln und vergängliche Flecken klassifiziert. Sie alle belegen, dass in unserer Zeit, wo die Welt bis in den letzten Winkel erforscht und vermessen ist, trotzdem auch noch für den heutigen Menschen das Entdecken nie aufhört.

Lesetipps

(1) Alastair Bonnett: „Die seltsamsten Orte der Welt – Geheime Städte, verlorene Räume, wilde Plätze, vergessene Inseln“ (Verlag C.H. Beck, München 2019, 296 Seiten mit neun Illustrationen, Paperback, 14,95 €, ISBN 978-3-406-69817-0)

(2) Martin Zimmermann: „Die seltsamsten Orte der Antike – Gespensterhäuser, hängende Gärten und die Enden der Welt“ (Verlag C.H. Beck, München 2020, 336 Seiten, Paperback, 14,95 €, ISBN 978-3-406-74893-6)

(3) Johann Hinrich Claussen: „Die seltsamsten Orte der Religionen – Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen“ (C.H. Beck Verlag, München 2020, 239 Seiten, Leinen mit vierfarbigem Schutzumschlag, 20,00 €, ISBN 978-3-406-75598-9)