Lust zu lesenSchwarz-weiße Giraffe: „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Sasha Salzmann

Lust zu lesen / Schwarz-weiße Giraffe: „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Sasha Salzmann
Sasha Salzmann Foto: Heike Steinweg

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Sowjetunion, Perestroika, Migration. Sasha Salzmann hat einen berührenden Roman über vier Frauen geschrieben, die nie wirklich angekommen sind. Guy Helminger hat ihn gelesen.

Das Verhältnis zwischen Nina und ihrer Mutter Tatjana ist schwierig. Sie sehen sich fast nie. Genauso geht es Edita mit ihrer Mutter Lena. Die beiden Töchter sind in Deutschland zur Welt gekommen, die Mütter in der Ukraine groß geworden. Und nun soll ein Fest alle wieder in Jena zusammenführen, denn Lenas 50. Geburtstag steht an.

Sasha Marianna Salzmann<br />
„Im Menschen muss alles herrlich sein“<br />
Suhrkamp 2021<br />
384 S., 24 Euro
Sasha Marianna Salzmann
„Im Menschen muss alles herrlich sein“
Suhrkamp 2021
384 S., 24 Euro

Sasha Salzmann erzählt aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der vier Frauen ihre Geschichte seit den 1970ern. Damals war Lena ein kleines Vorschulkind, erlebte den Drill der Pionierlager, die Bestechung einer Ärztin, damit sie Lenas kranke Mutter behandelt, dann die Korruption, um selbst einen Studienplatz zu ergattern, die demütigenden, patriarchalischen Strukturen, schließlich die Perestroika, die Fleischwolfzeit, in der viele verarmten und andere durch Kriminalität und Gewalt reich wurden. Auch Tatjana versucht in dieser Umbruchzeit mit einem halb illegalen Spirituosenladen zu überleben, zieht schließlich hochschwanger nach Deutschland, wo sich nichts für sie verbessert. Dass die Töchter sich nach und nach von ihren Müttern distanzieren, liegt vor allem daran, dass sie die Ukraine nur vom Hörensagen kennen, Lena und Tatjana sowie die anderen Migranten der ukrainischen Community sich hingegen über etwas definieren, was es längst nicht mehr gibt. Ständig tun sie, als sei früher alles heil gewesen, und leiden an einem Phantomschmerz, der sich Heimat nennt. Für Edita hingegen ist Heimat „die Erde, die dich auch über Entfernung hinweg zu töten vermag“. Aber auch sie baut sich eine Wirklichkeit zusammen, von der sie gehört hat, und vergisst, sie mit der Realität abzugleichen. Sinnbildlich für dieses Vorgehen steht Pirosmanis Giraffe. Der georgische Maler hatte nie ein solches Tier gesehen und malte es aufgrund von Beschreibungen weiß mit schwarzen Flecken.

Sasha Salzmann hat mit „Im Menschen muss alles herrlich sein“ einen atmosphärisch dichten, dabei emphatischen Roman geschrieben, der nicht nur von den letzten 50 Jahren erzählt, sondern auch das Verhältnis zwischen Russland und Ukraine thematisiert und damit hochaktuell ist. Zugleich ist es ein Buch über das Unausgesprochene, das Hingenommene, das Beziehungen aus Unwissenheit auseinanderbrechen lässt. Edita wird auf der Fahrt zum Geburtstag ihrer Mutter nach und nach klar, wie wenig sie über Lena weiß. Und je mehr sie in Erfahrung bringt, je mehr Farbe die Giraffe bekommt, je mehr sie sich der Realität angleicht, desto stärker fühlt sich die Tochter mit ihrer Mutter verbunden. Ein Roman, der auf hochsensible und intelligente Art von Schmerzen erzählt, die die zeitgeschichtlichen Entwicklungen mit sich bringen und die die Menschen unbewusst in sich verlängern.