Republikflucht in den Himmel

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Im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls von November 1989 erscheint eine ganze Palette von Büchern über die deutsch-deutsche Geschichte. Sie sind nachdenklich, witzig, einige großartig.

Kein Land war so schön wie die alte Bundesrepublik – aus ostdeutscher Sicht. Nicht nur wegen Schokolade, Kaffee, Seife und Deo, sondern weil es ein dicht besetzter Sehnsuchtsort war. Jutta Voigt, in der DDR eine bekannte Filmkritikerin, schrieb darüber ein komisch-wunderschönes Buch.

Jutta Voigt

„Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht“ (Aufbau, 228 S., 16,95 Euro) ist ein Bekenntnis, das Egon Krenz und Konsorten die Stirnen runzeln lässt. Sie, gnadenlose Vertreter eines unbarmherzigen Systems, waren schuld daran, dass selbst eine nüchterne Reporterin noch 20 Jahre später über den Klassenfeind derart ins Schwärmen gerät.
„Der Westen als Traumziel mit seiner Unerreichbarkeit“, schreibt Jutta Voigt, „hatte seine Heiligsprechung begonnen. Jener Westen, der über aller Wirklichkeit schwebte, diese Welt voll herrlicher Dinge, die keinen Preis hatten, eine Art Kommunismus im Kapitalismus – dieser Westen war die Erfindung des Ostens …“ Ihr Band versammelt Fantasiegeschichten, aber ohne „Westalgie“, so wie Jutta Voigt auch jeden Anflug von „Ostalgie“ vermeidet. Anhand realer und gehörter Geschichten protokolliert sie einfach, wie es damals war.

Joachim Walther

Als die DDR zu Bruch ging, schrieb Joachim Walther keine Literatur mehr. So wurde er, der im Osten zu den besten Schriftstellern gehörte, in Gesamtdeutschland nicht bekannt.
Nach zwei Jahrzehnten und inzwischen 66 Jahre alt, legt er mit „Himmelsbrück“ (Mitteldeutscher Verlag, 279 S., 17,20 Euro) einen Wende-Roman mit wenig Stasi und viel Gefühl und Leidenschaft vor.

Eine Romanze auf dem Land. Himmelsbrück mit Bauerngehöften und Brombeerhecken im Mecklenburgischen, Matti und Ria und ihre Liebe in Zeiten der Trostlosigkeit. Er Maler, etwas älter und Realist. Auch sie Künstlerin, aber vor allem eine Träumerin im Realsozialismus. Sie feiern die Feste ihrer körperlichen Vereinigungen abseits von Trabbis und Traktoren, sind kreative Menschen, allein, weil sie mit diesem Lebenmüssen zurechtkommen.

Joachim Walther lässt in seinen Figuren jene der Romantik wiederkehren, Bettina von Arnim und die Günderode. Alles tragische deutsche Gestalten, aber unbedingte Liebende. Auch hier: Ria wird 1990 Opfer eines Verkehrsunfalls. Matti steht in den Flammen des restaurierten Landhäuschens. Das Beste ist ihm genommen worden, jetzt, wo vieles anders hätte werden können. Was ist eine Revolution gegen den Verlust einer Liebe, die so groß war?

Rayk Wieland

Das lustigste Buch zum Verbleichen der DDR schrieb Rayk Wieland, Jahrgang 1965. „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ (Kunstmann, 208 S., 17,90 Euro) macht uns bekannt mit Herrn W., einem Untergrunddichter, der seine Observierung durch die Guck-und-horch-Kompanie der Stasi einfach ignoriert. Erst 2009, zwei Jahrzehnte danach, wird er als ehemals Verfolgter zu einer Podiumsdiskussion eingeladen und erfährt, wie bedroht er von den Greifern war, die seine Manuskripte („In München du./ Ich in Berlin./ Hätt nichts dagegen,/ Mal umzuziehn“) beschlagnahmt hatten und harte Strafmaßnahmen planten. Zum ersten Mal stellt er sich – mit Hilfe einer Psychologin – dem dunklen Kapitel seiner Biografie. Es wird kafkaesk, aber es gibt auch viel zu schmunzeln.

Karsten Krampitz

Knüppelhart dagegen ist Karsten Krampitz’ Roman „Heimgehen“ (Langen-Mueller, 160 S., 16,95 Euro). Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt im Juni erhielt der Autor dafür den Publikumspreis. Es ist die Geschichte des Pfarrers Oskar Brüsewitz, der sich 1976 in Zeitz selbst verbrannte. Er beschreibt Benno Wuttke – wie Brüsewitz im Buch genannt wird – als pfiffigen, aber unbestechlichen Christenmenschen, der sich von der Propaganda nicht verbiegen ließ.

Weil die Stasi ihn nicht aus dem Schutz der Kirche kriegte, wurde sie schmierig. Gerüchte wurden gestreut: Der Pfaffe habe Kinder sexuell belästigt (obwohl sich kein Opfer meldete), seine Frau gehe fremd, Wuttke sei BND-Agent. Plötzlich starben seine Schafe, die Scheune brannte, nachts klingelte der nie bestellte Schlüsseldienst. Was aber der Autor akribisch herausarbeitet, ist die Ausweglosigkeit des Renitenten, der systematisch zum Opfer wurde und dem am Ende nur noch die „Republikflucht in den Himmel“ blieb. Wuttke/Brüsewitz wollte mit einem drastischen Schlussakt seine Integrität verteidigen.

Hans und Wolfgang Natonek

Geschichtsunterricht bietet der „Briefwechsel 1946-1962“ (Lehmstedt Verlag, 221 S., 19,90 Euro) von Hans und Wolfgang Natonek, ein Dialog von Vater und Sohn. Hans, 1892 in Prag geboren, jüdischer Herkunft im Großbürgertum der Habsburger Monarchie, war in der Weimarer Republik ein angesehener Journalist, gehörte zur publizistischen Szene von Joseph Roth, Stefan Zweig, Erich Kästner und den Brüdern Mann. Er lebte in Leipzig, war nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs unerschütterlicher Pazifist, aber von liberaler Gesinnung. Ab 1933 auf der Flucht durch halb Europa, fand er – nach Vermittlung durch Thomas Mann – Aufnahme in den USA. Da war er schon zu alt, um sich der neuen Umgebung, der neuen Sprache noch anpassen zu können.

1919 war sein Sohn Wolfgang zur Welt gekommen, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Studentenführer an der Leipziger Universität und in der Blockpartei LDPD agierte. Er war nach der Erfahrung des Krieges ein Mann der „neuen Zeit“, brachte sich ein. 1948 wurde er auf offener Straße verhaftet, vor ein sowjetisches Militärgericht gestellt und zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt.

Man verwahrte ihn in den Zuchthäusern Bautzen und Torgau, 1956 kam er im Rahmen einer Amnestie frei und setzte sich in den Westen ab. Dort studierte er in Göttingen und wirkte als Gymnasiallehrer. Vater und Sohn sind inzwischen verstorben (1962 und 1994), aber ihr Briefwechsel ist ein Dokument dafür, wie Machtpolitik hoffnungsvolle Leben und Karrieren rücksichtslos zerstört. Im Dialog der beiden geht es um Ängste und Hoffnungen, Erfahrungen und Vorurteile, fatale Auswirkungen von Politik, auch im Privatleben, um Glückssuche und Unglückserlebnisse in Serie. Ein erschütterndes Buch über die Nachkriegszeit, in der die DDR entstand und die alte Bundesrepublik. Nun wieder zu Deutschland vereint.