Klangwelten / Ohne Schrott und Schlagbohrer

Einstürzende Neubauten – Alles in allem
Die Einstürzenden Neubauten feiern ihr 40-jähriges Jubiläum mit dem Album „Alles in allem“, das von einem wie immer ungewöhnlichen, aber gefälligeren Sound getragen wird. Inhaltlich steht Berlin im Mittelpunkt.
Im Proberaum der Neubauten hängt ein Schild mit dem Brecht-Zitat „In the dark times will there also be singing? Yes there will also be singing about the dark times“ – ein Dialog von derzeit erschreckender Aktualität. Und in der Tat sind Blixa Bargelds Texte wie immer düster geworden, aber sehr lyrisch, gespickt mit originellen Sprachbildern, wie der 61-Jährige im Song „Möbliertes Lied“ in seiner großspurigen Art ankündigt: „Die verbrauchten Metaphern hab’ ich im Giftmüll entsorgt; mit neuen, unbenutzten, ausreichend vorgesorgt. In der Makulatur hab’ ich die richtigen Zeilen gesucht; dazwischen alle Lügen, vor- und rückwärts, abgekratzt und verflucht.“
Der kreative Ausgangspunkt für nahezu jedes Neubauten-Stück, verriet deren Frontmann der deutschen Rolling Stone, sei immer noch die intensive Klangforschung. Wie früher würden die Musiker aus Gegenständen Geräusche herausholen, die man nicht von ihnen erwarte. Allerdings, so Bargeld weiter, müssten sie heute auf die ehemals obligatorische Fahrt zum Schrottplatz verzichten, um Material wie Stahlkörper, Ketten, Eisenträger, Kanister und dergleichen zu sammeln. Aus Versicherungsgründen lasse sich leider kein Schrottplatz mehr betreten. „Die entziehen uns quasi die Existenzgrundlage“, moniert der Mann in Schwarz, der nur selten lacht und sich stattdessen mit einer Aura des Rätselhafen umgibt, augenzwinkernd.
Keine Architektur-Apokalypse
Statt brutaler Noise-Klänge setzt man diesmal auf ein etwas weicheres Instrumentarium mit zugänglicherem Sound und sogar sanften Streichermelodien. Das funktioniert größtenteils sehr gut, wie beispielsweise im Song „Taschen“, dessen Arbeitstitel noch „Koffer“ lautete, weil die Musiker Reißverschlusstaschen aus Plastik mit immer neuem Inhalt füllten, mal mit Styropor, mal mit Nudeln oder Hülsenfrüchten, mal mit Lumpen, und diese dann mit Holzklöppeln bearbeiteten. Rudolf Moser steuert hier Melodien auf Metallrohren bei, die Teil ihrer selbst entwickelten und zusammengebauten Metal Percussion sind, ehe am Ende ein Streichquartett den Song davonträgt, während Blixa, der Underground-Dichter, uns mantraartig klarmacht, dass wir zum Warten verdammt sind.
Ja, die einstigen Sprengmeister des Trommelfells, die bei ihren Lärmattacken gerne mal die Grenze von 120 Dezibel überschritten und ihrem Publikum mit der Drohung „Hör mit Schmerzen, wir schlagen dich tot“, entgegentraten, sind etwas leiser und zahmer geworden, deswegen aber nicht weniger genial. Auch „richtige“ Instrumente wie Farfisa-Orgel, Klavier, Gitarre, Melodica oder Tuba kommen zum Einsatz. Die Klangkulisse ist betörend, Bargelds tiefe Stimme ebenso. Beides zusammen wirkt fast hypnotisch. Auf einer anderen Ebene kann man sich beim Zuhören auf eine virtuelle Reise durch Deutschlands Hauptstadt begeben, wie die Titel „Grazer Damm“, „Tempelhof“, „Am Landwehrkanal“ oder „Wedding“ verraten.
Fazit: Die Einstürzenden Neubauten sind nicht mehr die musikalischen Umstürzler wie noch vor drei, vier Dekaden, sondern gehören mittlerweile zum deutschen Kulturgut sowie neben Kraftwerk und Can zu den international bedeutendsten deutschen Bands. Auch gut! Danke Neubauten, dass es euch noch gibt! (Gil Max)
Bewertung: 9/10
Anspieltipps: Möbliertes Lied, Zivilisatorisches Missgeschick, Taschen, Alles in allem
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