Nicht virtuell, sondern ganz real!

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Dass klassische Musik nicht immer weltfremd sein muss, sondern sich durchaus als modern erweisen kann und gelegentlich auch den Nerv der Zeit trifft, zeigt die jüngste Entwicklung im weltweiten Netz./Emile Hengen

Unter der künstlerischen Leitung des weltweit renommierten Pianisten Lang Lang, der noch vor Kurzem mit dem Leipziger Gewandhausorchester in der Luxemburger Philharmonie zu Gast war und sein gespannt zuhörendes Publikum in atemberaubende Klangwelten entführte, casteten die einflussreichsten Solisten, Dirigenten und Komponisten dieser Hemisphäre eine Unmenge an ambitionierten Musikern über das weltweit führende digitale Videoportal „YouTube“. Ihr bescheidenes Ziel: die Gründung des ersten digital gecasteten Sinfonieorchesters der Welt.

Hochladen stattvorspielen

Ganz bequem von zu Hause aus, ohne jemals dem Risiko ausgesetzt zu sein, dem Druck des Lampenfiebers zu erliegen, zeichneten die teilnehmenden Musiker per „webcam“ die Sonaten auf, die ihnen von der internationalen Jury vorgegeben wurden.
Zwei Monate lang konnten Bewerber aus aller Welt von ihrem persönlichen Rechner aus die Noten für eine des chinesischen Komponisten und Dirigenten Tan Dun eigens für den Wettbewerb komponierte Sinfonie, die „Internet Symphony No. 1 – Eroica“, herunterladen und dann ihre selbst gedrehten Videos, in denen sie diese und ein weiteres, frei wählbares Stück spielen, auf die YouTube-Seite stellen.
Das Beste daran: Misslang der erste Take, wagte man, ohne sich in Bedrängnis zu fühlen, ganz relaxed einen zweiten Versuch. In vertrauter Umgebung, wie etwa im eigenen Schlaf- oder Wohnzimmer, stimmte man zum allerletzten Mal die Saiten seines Instruments, atmete tief durch, griff zur Tastatur und klickte auf die Aufnahmetaste. Und so taten es dann auch Tausende von Bewerbern, die so lange drauflosspielten, bis die höchste Stufe der Perfektion erreicht worden war.

Wenn sich die Spreu vom Weizen trennt …

Spur für Spur, ohne jeglichen Zeitdruck, spielte man seine Partituren ein. Nur etwas gab es unbedingt zu beachten: Nach dem Abschluss der Aufnahme galt, wie so oft, die Regel „Save or Die!“. Ganz komfortabel von zu Hause aus, stellte man sein fertiggestelltes Bewerbungsvideo ins Netz.
Ein, zwei oder drei Klicks, reichten dabei völlig aus, damit die persönlich erstellte Visitenkarte weltweit abrufbar war und offiziell im Rennen für einen der heiß begehrten Plätze im weltweit ersten digital gecasteten Sinfonieorchesters lag. Die Experten unter allen „Homerecorder“ verfügten natürlich über die Möglichkeit, verfehlte Parts dank des „Copy/Paste“-Verfahrens neu einzuspielen oder mittels spezieller Klangeffekte, Spielfehler zu vertuschen. Mogeln aber zählt nicht, denn spätestens zu dem Zeitpunkt, wenn die von der Jury sorgfältig auserwählten Musiker zum ersten Mal für eine gemeinsame Probe in „Echtzeit“ und in der „realen Welt“ zusammentreffen, fliegen Hochstapler auf.
Dann nämlich trennt sich die Spreu vom Weizen und es werden lediglich die Musiker zurückbehalten, von denen die Jury der Auffassung ist, dass sie den Anforderungen eines professionellen Sinfonieorchesters, das ja schließlich internationales Renommee erlangen soll, gerecht werden.
Das fertig zusammengestellte Orchester wird am 15. April sein erstes Konzert unter der Leitung von Michael Tilson Thomas in der New Yorker Carnegie Hall spielen. Drei Tage lang soll geprobt werden, dann schlägt die Stunde der Wahrheit und die Musiker werden zum ersten Mal gemeinsam auf einer echten Bühne spielen.

3.000 Bewerber mithohem Niveau

Sollte sich dieses waghalsige Experiment als erfolgreich erweisen, so wird es sicherlich nicht lange dauern, bis das Sinfonieorchester um den gesamten Erdball spielt. Einen Tag nach der ersten öffentlichen Aufführung wird das Konzert dann auch dort stattfinden, wo das Projekt entstanden ist: auf „YouTube“.
Insgesamt bewarben sich mehr als 3.000 Teilnehmer, darunter sowohl professionell ausgebildete Musiker als auch talentierte Nachwuchsmusiker. Aus mehr als 70 verschiedenen Ländern gingen die Videos ein. „Die hohe Zahl der Bewerber hat uns überrascht und das Niveau der Musiker war eigentlich durchweg hoch“, urteilte eines der Jury-Mitglieder. Nun, vielleicht mag dieses eigensinnige Sinfonieorchester ein vorzügliches Vorzeigebeispiel für zahlreiche Musikvereine dieses Landes sein, die sich immer wieder darüber beschweren, dass es ihnen an Nachwuchs fehlt. Das „YouTube Sinfonieorchester“ hat uns gelehrt, dass man sich lediglich einzuloggen hat und sich im „world wide web“ auf die Suche zu machen.
Denn dort sind sie zu finden, junge Virtuosen, die im Netz ihre Spuren hinterlassen und sich dem Spiel klassischer Musik leidenschaftlich hingegeben. Darüber hinaus zeigt uns diese Geschichte vor allem eines: Wir sind vollends im digitalen Zeitalter angelangt!

INTERNET
www.youtube.com/symphony