„Liebe wird überschätzt“

„Liebe wird überschätzt“

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Javier Marías, in den 90er Jahren bekannt geworden durch seinen Bestseller „Mein Herz so weiß“, hat eine traurige Liebesgeschichte geschrieben. In seinem neuen Buch „Die sterblich Verliebten“ spinnt er seine Leser ein in einen Kokon aus Schuld und Verstrickung.

María ist Lektorin und liebt es, am Morgen vor der Arbeit im Café Leute zu beobachten. Wie das Paar, das ihr perfekt erscheint, jung und schön, einander herzlich zugetan.

Ein Buch, das für Diskussionsstoff sorgen dürfte.

Als die beiden, Luisa und Miguel, eines Morgens nicht mehr erscheinen, ist sie enttäuscht. In der Zeitung liest sie, dass Miguel Opfer eines obdachlosen Stadtstreichers wurde, der ihn auf offener Straße mit mehreren Messerstichen getötet hat. María lähmt die Trauer um dieses verlorene Glück eines Paars. Als sie bald danach Luisa wieder begegnet, spricht sie ihr Beileid aus, und Luisa verrät, dass auch sie und Miguel sie im Café betrachtet haben; sie gaben ihr den Namen „die Besonnene“.

Lückenbüßerin für eine Andere

An Besonnenheit fehlt es María, als ihr Luisa Miguels Freund Javier vorstellt. Er kümmert sich hingebungsvoll um die Witwe, während María sich sofort in ihn verliebt. Javier schläft mit ihr, immer wieder, aber María begreift, dass es sich um einen Frauenhelden handelt, der rastlos von einer zur anderen wandert, aber in Wirklichkeit Luisa haben will. Während er auf das Ende ihrer Trauerphase wartet, vergnügt er sich mit der Lückenbüßerin. Das ist bitter, aber es heißt: „Luisa wurde ihr jetziges Leben zerstört, nicht das künftige.“

„Die sterblich Verliebten“ ist eine komplexe Geschichte. Sie handelt von Irrungen, seelischer und körperlicher Gewalt und der Erkenntnis, dass man viel über Menschen erfahren kann, ohne sie je zu verstehen. Javier Marías neuer Roman ist geschrieben aus der Perspektive Marías, das ist neu bei dem spanischen Schriftsteller. Tückisch ist nur, dass der Autor seine Heldin auf einen gefährlichen Balanceakt navigiert, denn er baut eine weitere Ebene ein: Lange Zeit bleibt offen, ob nicht Javier, der Mann mit den sinnlichen Lippen, aber oft so starren Augen, der Mörder von Miguel sein könnte. Vermutungen werden genährt, es gibt nur spärliche Informationen, María bekommt in Javiers Gesprächen mit Dritten, darunter halbseidenen Gestalten, mit, dass etwas nicht stimmt mit ihrem Liebhaber. Die spannungsgeladenen Effekte werden durch Milieustudien angeheizt. Ein literarisches Verfahren, das den Leser bei der Stange hält.

Zynische Betrachtung

Zynische Betrachtung der Liebe
In seinen Interviews erklärt Javier Marías, dass er sich als Romanautor ausgebrannt gefühlt hatte. Er habe etwas ganz Neues anfangen müssen. Seine pessimistische, fast zynische Betrachtung der Liebe zwischen Mann und Frau führt er darauf zurück, dass die Liebe überschätzt wird. Sie bringe, so Marías, Angenehmes in die Beziehung, aber allmählich träten auch „die dunkelsten Seiten“ der menschlichen Existenz hervor. „Ich bin überzeugt, dass Liebe der Motor für die schlimmsten Verhaltensweisen der Menschheit sein kann“, erklärte er der Welt am Sonntag. „Wir glauben, dass die Liebe uns glücklicher, zufriedener oder gar zu besseren Menschen macht. Oft ist aber genau das Gegenteil der Fall. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich uneigennützige, großzügige Leute plötzlich egoistisch und kleinlich verhalten haben …“

Damit umreißt der Madrider Schreibstar exakt das Geschehen dieses Romans. Finstere Ahnungen und ängstliche Überlegungen ranken sich von der ersten Seite an um die Handlung, bestimmen sie und treiben sie voran. Es geht hinab ins archaische Dunkel, in den Gefühlskern von Menschen, zu der Energie, die sich daraus entwickelt und die negativ ist. Eine Geschichte mit doppeltem Boden, in (manchmal etwas zu) langen Monologen wird das überdeutlich. Menschliches Leben ist nicht eindeutig, sondern von Zufällen gesteuert, die jedes Ich zu einem Blatt im Wind seiner Zeit machen. Das Sterben ist kein finaler Lebensakt, sondern setzt schon in frühen Jahren ein, wenn Treulosigkeit und andere Vergehen das Leben überschatten. Javier Marías Roman entzaubert es, er relativiert unsere Euphorie und verschiebt ständig unseren Welterkenntnisstandpunkt. „Die Wahrheit ist niemals klar, ist immer unentwirrbar“, lautet ein Schlüsselsatz.

Trotzdem leben wir weiter. Mit seiner Hauptfigur hat der Autor Gnade: María wird eines Tages über die Schmach hinwegkommen, einen anderen Mann kennenlernen, noch mal anfangen. „Letztlich wird mich niemand richten, es gibt keine Zeugen meiner Gedanken“, denkt María am Ende.