Alain spannt den Bogen / Legendäre Aufnahmen aus der Pionierzeit: Zum Beethoven-Jubiläum

Claudio Arrau
Obwohl man gerne heute vom Niedergang der CD spricht, werden wir doch in Wirklichkeit von unzähligen neuen Produktionen überrollt. Früher war das nur den Stars vorbehalten, doch heute kann jeder junge Künstler und jedes neue Ensemble relativ schnell mit technisch hochkarätigen Aufnahmen auf dem CD-Markt präsent sein. Das führt allerdings zu einer schier unübersichtlichen Zahl an Neuaufnahmen, die man als Rezensent gar nicht mal alle anhören kann. Und dabei sind unter diesen jungen Interpreten oft außergewöhnliche Talente, die es wirklich zu entdecken gilt.
Unsere Zeit ist schnelllebiger, Künstler leider oft nur zur Ware geworden. Doch das ist ein ganz anderes Problem, hier soll es nun um Beethoven und die legendären Aufnahmen seiner Werke gehen. Doch was ist eigentlich legendär? Meist sind es Aufnahmen, die mit sehr viel Vorbereitung, Herzblut und Ernsthaftigkeit von den besten Interpreten ihrer Zeit gemacht wurden, und zwar in einer Zeit, in der eine Schallplattenaufnahme noch eine Pioniertat, ein Ereignis war. Klar dann auch, dass alle großen Majorfirmen ihre Stars ins Rennen schickten.
Das waren damals EMI, Deutsche Grammophon Gesellschaft, Philips und DECCA sowie CBS, RCA und noch einige andere. Die goldenen Jahre der klassischen Schallplatte kann man eigentlich zwischen 1950 und 1985 festmachen; der Höhenflug begann mit den ersten Stereoaufnahmen und fand ihr Ende mit der Compact Disc, die Anfang der 80er Jahre die Schallplatte ablösen sollte und den Markt enorm verbreiterte. Glücklicherweise wurden alle legendären Aufnahmen und Referenzeinspielung auf das CD-Medium übertragen, sodass wir diese wertvollen Pionierleistungen heute noch immer in vorzüglicher Klangqualität erleben können.
Die Beethoven-Symphonien
Um unsere Reise durch die Schallplatten-Geschichte von Beethoven zu beginnen, scheint es uns am einfachsten, sich erst mal auf die Gesamtaufnahmen der Beethoven-Symphonien zu konzentrieren. In der Pionierzeit, ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs, durften die Grandseigneurs des Taktstocks diese Werke offiziell und integral aufnahmen: Arturo Toscanini (1949-53), Bruno Walter (1946-52), Herbert von Karajan (1951-55), Wilhelm Furtwängler (1948-54) und Otto Klemperer (1955-59).
Natürlich auch noch andere. Aber wenn wir von den Referenzaufnahmen sprechen, dann werden diese hier wohl am ehesten genannt. Wenngleich die Aufnahmen mit Furtwängler (und mit verschiedenen Orchestern) heute noch immer als die Referenzaufnahmen gelten, so ziehe ich persönlich die düstere, gewaltige und sehr konturenreiche Interpretation von Otto Klemperer und dem Philharmonia Orchestra London vor. Ein derart grimmiger und doch zugleich unendlich zarter Beethoven wurde in meinen Augen nie wieder erreicht.
Von Herbert von Karajan liegen insgesamt vier Gesamtaufnahmen vor, die sehr schön die Entwicklung des Maestros über vier Jahrzehnte zeigen. Die aufregendste und virtuoseste dürfte seine erste Einspielung aus den frühen 50er Jahren für EMI sein. Hier geht es Karajan noch um Expressivität, während es in seinen späteren Einspielungen, alle für D.G.G., hauptsächlich um Klangästhetik geht. Diese muss man natürlich ebenfalls kennen und viele Melomanen werden mindestens eine davon als ihre Lieblings-Beethoven-Aufnahme bezeichnen.
Da Wilhelm Furtwängler als der größte Beethoven-Dirigent überhaupt galt, bleibt seine EMI-Aufnahme unantastbar, selbst wenn zwei der Symphonien (Nr. 2 & 8) mit dem damals mittelmäßigen Stockholm Philharmonic Orchestra live mitgeschnitten wurden. Furtwängler hatte sich anscheinend geweigert, die Symphonien, die er nicht mochte, später im Studio für diese Gesamtaufnahme mit den Wiener Philharmonikern einzuspielen. Mit in der Box auch der legendäre Mitschnitt der Neunten mit dem Bayreuther Festspielorchester, die 1951 zur feierlichen Eröffnung der ersten Nachkriegsfestspiele aufgeführt wurde.
Es ist aber auch klar, dass es weitaus bessere Furtwängler-Aufnahmen der einzelnen Symphonien gibt, allerdings nicht als Gesamtaufnahme: Unser Favorit auf dem Thron bleibt allerdings nach wie vor Otto Klemperer (EMI), gefolgt von Furtwängler (EMI), Karajans erster EMI-Einspielung und dem sensationellen Arturo Toscanini mit sein NBC Orchestra, dessen digital aufbereitete Aufnahmen nun einen Genuss für das Ohr sind und Toscaninis einmaliges Genie der Tempistraffung optimal zur Geltung bringen.
Die Klavierkonzerte
Die heute erhältliche Klemperer-Box hat den großen Vorteil, dass sie ebenfalls die 5. Klavierkonzerte, die Chorfantasie, die Große Fuge sowie einige Ouvertüren enthält. Auch von den Klavierkonzerten gibt es unzählige Einspielungen und Referenzen.
Auch hier war meine Wahl eigentlich recht schnell getroffen. Ganz weit vorne liegt Klemperers Aufnahme aus den späten 60er Jahren mit dem jungen, damals aufstrebenden Pianisten Daniel Barenboim. Hier treffen altes und neues Genie zu einem atemberaubenden Beethoven-Happening zusammen. Das Resultat ist einmalig. Klemperer dirigiert wie gewohnt akzentuiert und man hat auch nicht den Eindruck, dass er sich wegen seiner Solisten zurückhält. Das braucht er auch nicht, denn Barenboim fügt sich perfekt in den Klemperer-Sound ein und spielt eine auch heute noch immer mustergültige Interpretation ohne Schwachpunkte.
Unter den Fittichen des legendären EMI-Produzenten Walter Legge, der die Klemperer/Barenboim-Aufnahme betreute, war aber schon Ende der 50er Jahre eine weitere hochkarätige Einstellung Einspielung der Klavierkonzerte mit demselben Orchester entstanden. Der chilenische Pianist und Poet Claudio Arrau befand sich auf dem Höhepunkt seines Könnens und begeistert in diesen Aufnahmen durch seine Schlichtheit und sein absolutes Stilgefühl. Begleitet wird er am Pult von Alceo Galliera, einem Dirigenten, der heute fast vergessen ist, zu seiner Zeit aber ein gefragter Begleiter am Pult für große Pianisten wie Lipatti, Benedetti Michelangeli und Arrau war und darüber hinaus ebenfalls als Operndirigent glänzte.
Aus der gleichen Zeit stammt auch Emil Gilels Live-Aufnahme der 5. Klavierkonzerte. Eine Aufnahme, die der schönen Arrau-Interpretation diametral gegenüber gesetzt ist. Gilels kämpft hier als Poet, als Humanist gegen ein grimmiges, im Orchester etwas hart akzentuiertes Beethoven-Bild, das von Dirigent Kurt Sanderling und der Tschechischen Philharmonie bewusst oft an die Spitze getrieben wird und kaum „Ach, wie schön“-Momente enthält. Dafür aber eine Menge an Nachdenklichkeit, offenen Fragen und kantig virtuosen Wendungen in den Tutti-Passagen.
Ein Grund, weil wir die klassisch-brave Aufnahme von Wilhelm Kempff mit den Berliner Philharmonikern und Ferdinand Leitner bei unserer Auswahl nicht berücksichtigt haben. Sie kann es mit keiner anderen Gesamtaufnahme aufnehmen, was auch an dem uninspirierten Spiel der Berliner und dem fantasielos dirigierenden Ferdinand Leitner liegt. Stattdessen bleibt Kempffs romantische Einspielung der Konzerte aus der Mitte der 50er Jahre auf D.G.G. mit den Berliner Philharmonikern unter Paul van Kempen eine der schönsten und ausgeglichensten, die wir besitzen.
Unantastbar und außer Konkurrenz bleibt für uns Barenboim/Klemperer (EMI). Es folgen Arrau/Galliera (EMI), Kempff/van Kampen (D.G.G.) und Gilels/Sanderling (Multisonic).

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