La vie d’Adèle: Ein politisches Manifest?

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Wie kein anderes Festival symbolisiert Cannes die Siebte Kunst, erinnert gleichzeitig an die Klassiker vergangener Jahre, sieht sich aber auch als Wegweiser für neue Tendenzen.

Stars von früher reichen den Stars von morgen die Hand und traditionelle Erzählschemata stehen im Einklang mit künstlerisch gewagteren Darstellungsrhythmen.

Als dritter französischer Wettbewerbsbeitrag ging am Donnerstag Abdellatif Kechiches „La vie d’Adèle“ ins Rennen. Der französische Regisseur tunesischer Abstammung adaptiert hier einen Kultcomic: „Le bleu est une couleur chaude“ von Julie Maroh. Als Adèle Emma kennenlernt, ist es Liebe auf den ersten Blick. Die Beziehung zwischen den beiden Frauen charakterisiert sich durch eine ganz besonders intensive körperliche Liebe. Im Anschluss an den Film wurden in einigen Zeitungen vor allem die langen und sehr expliziten Sexszenen thematisiert und so wurde dieses Sujet auch ausgiebig in der Pressekonferenz diskutiert.

Der Regisseur Kechiche („La graine et le mulet“, „Vénus noire“) weiß, dass es Länder gibt, in denen diese Sexszenen anders wahrgenommen werden. Es wäre aber bedauerlich, so Kechiche, sollte ein Film wegen einer einzigen Szene überhaupt nicht gezeigt werden können, und so ist der Filmemacher durchaus zu Kompromissen und Diskussionen bereit. Der anwesende Produzent konnte allerdings mit großer Freude mitteilen, dass „La vie d’Adèle“ bereits in die USA sowie in andere Länder verkauft wurde und dies ganz ohne irgendwelche Kommentare oder gar Bitten um eine gekürzte Version geschah.

Der Entstehungszeitpunkt von „La vie d’Adèle“ liegt viele Monate zurück, also ganz klar vor der Polemik rund um das französische Gesetz zur Homo-Ehe, das Heirat und Adoption für Schwule und Lesben legalisiert. Die Gay Community könnte davon profitieren und den Film als politisches Manifest bezeichnen. Kein Problem für den Regisseur. Der Film liegt mit 177 Minuten weit über der klassischen Spieldauer von rund 2 Stunden und genau das könnte den Erfolg an der Kinokasse verhindern. Dabei hat der Film viele Zutaten, um gerade beim jüngeren Publikum punkten zu können.

Altern wieder im Mittelpunkt

Die ältere Generation hingegen dürfte Gefallen finden an zwei Werken, bei denen das Altwerden und Altsein im Mittelpunkt steht. Alexander Payne („About Schmit“, „The Descendants“) kehrt mit „Nebraska“ an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurück, nutzt diese Rückkehr aber, um über das Alter zu philosophieren.

Seit Monaten hütet Woody die Mitteilung einer Lotteriegesellschaft wie einen Schatz. Er sei der Gewinner von 1 Million Dollar und er solle sie in Billings, Montana, abholen. Obwohl die ganze Familie ihm versichert, dies sei ein Trick, ihm etwas zu verkaufen, und man wolle ihm keineswegs Geld schenken, bleibt Woody stur. Immer wieder macht er sich zu Fuß auf den Weg, bis der jüngste Sohn endlich einwilligt und sich mit ihm auf die Reise macht.

Komik und Tragik

Eine bittersüße Komödie, ein Roadmovie in Schwarz-Weiß, so könnte man diese dramatische Story beschreiben. Payne setzt wie schon bei „About Schmidt“ auf eine kongeniale Verbindung von Komik und Tragik, wobei letzteres durch die schwarz-weißen Bilder dezent verstärkt wird. Irgendwie stimmt der Film den Zuschauer traurig, doch am Ende gibt es einen, wenn auch klitzekleinen Lichtblick.

Eine stimmige Hommage an das Alter und an das Altwerden, ein Thema, das auch Daniel Noah mit seinem Erstling „Max Rose“, der außerhalb des Wettbewerbs zu sehen ist, gelingt. Keinen Geringeren als Jerry Lewis höchstpersönlich konnte der junge Filmemacher für sein ambitiöses Werk verpflichten. Der 1926 geborene Jerry Lewis war hier in Cannes anwesend und zeigte sich in Plauderlaune bei der gestrigen Pressekonferenz: „Es ist das beste Drehbuch, das ich in 40 Jahren gelesen habe. Dieser Film wird sie glücklich machen.“

Ob er zu viel versprochen hat oder nicht, bleibt noch zu sehen. Die einzige Pressevorstellung vor der Konferenz war aus technischen Gründen abgesagt worden. Ganz am Ende des Festivals laufen noch einige mit großer Spannung erwartete Streifen: „The Immigrant“ von James Gray, „Only Lovers Left Alive“ von Jim Jarmush und „Michael Kohlhaas“ von Arnaud des Pallières. Werden diese hochkarätigen Filme das Palmarès beeinflussen können? Die Antwort gibt es am Wochenende.

(Martine Reuter/Cannes/Tageblatt.lu)