Die Krise schreiben (4)„Kampf den Viren auf allen vieren!“ – eine Kurzgeschichte von Nico Helminger

Die Krise schreiben (4) / „Kampf den Viren auf allen vieren!“ – eine Kurzgeschichte von Nico Helminger

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Es begann damit, dass ich einen Nachbarn auf allen vieren sah, draußen, auf dem Bürgersteig direkt vor meinem Haus.

Vielleicht hat er etwas verloren, dachte ich, und trat hinaus, um ihm behilflich zu sein. Sobald er mich erblickte, hob er eine Hand vom Boden und deutete mir in größter Aufregung an, ich solle mich ducken. Als ich seiner Aufforderung nicht gleich nachkam, kroch er, so schnell er konnte, davon.

Eine Erklärung für sein Verhalten hatte ich nicht, wollte auch keine voreiligen Schlüsse ziehen betreffend seinen Gesundheitszustand.

Erst abends, als ich den Fernseher einschaltete, erfuhr ich, was der Grund für das Benehmen des Nachbarn war: ein Virus. Ein äußerst gefährliches, ja lebensbedrohliches Virus, welches, so die besorgte Stimme der Nachrichtensprecherin, dabei war, sich mit ungeheurer Schnelligkeit auszubreiten und bereits erste Opfer gefordert hatte. Dieses äußerst gefährliche, ja lebensbedrohliche Virus hatte eine Besonderheit: Es hielt Abstand zur Erdoberfläche, bildete eine Schicht, die etwa 80 cm über dem Boden ihre unterste Grenze hatte (seitens der Wissenschaftler gab es unterschiedliche Messungen, einige sprachen von 87 cm, andere von 82, einer sogar von 92 cm, einig waren sich aber alle, dass das Virus nie näher als 80 cm an die Oberfläche heranreichte). Fazit: Der aufrechte Gang war für den Menschen nicht mehr möglich. Die Gefahr sei einfach zu groß, so die Botschaft der Politiker und Virologen. Um das Überleben der Bevölkerung zu garantieren, blieb nur eine Lösung: das Kriechen.

So flach wie möglich

Für Kinder unter 80 cm bestünde keine Gefahr, so ein Facharzt, sie dürften nur keine Luftsprünge wagen. Die Gefahr lauere ganz eindeutig im Bereich über 80 cm, daher müssten Erwachsene, falls sie vor die Tür gingen, sich im Bereich unter 80 cm oder, noch sicherer, unter 70 cm aufhalten.

Anfangs hatte es wohl noch geheißen: Gehen Sie gebückt! Aber schnell hatte sich die Maßnahme als ungenügend erwiesen. Das Fernsehen zeigte Bilder von Menschen, die das Virus erwischt hatten, alle in sehr schlechtem Zustand, darunter, wie ein Sprecher betonte, auch Gebückte.

Bückling genügt nicht, hieß es jetzt, halten Sie sich so flach wie möglich!

Da nicht alle Menschen bereit waren, augenblicklich den Empfehlungen der Regierenden nachzukommen, wurden strengere Maßnahmen ergriffen, die Empfehlungen sozusagen in Befehle umgewandelt. Unablässig berichteten die Medien über die Gefahren, die das Virus mit sich brachte. Virologen, Epidemiologen, Pandemiespezialisten aller Arten stritten sich mit Politikern um die besten Sendezeiten. Es geht um Ihr Leben! Bleiben Sie auf dem Boden! Kriechen Sie!

Da auch Menschen, die symptomfrei waren, das Virus übertragen konnten, und nicht zu überblicken war, wer unerlaubterweise zwischendurch den aufrechten Gang gewagt hatte, wurden Kontakte verboten. Jeder musste für sich alleine kriechen und dazu eine Schutzmaske tragen.

Die Zeichen stehen auf Wurm!, mahnte ein Regierungssprecher.

Sonderkommandos der Polizei behielten die Bewegungen der Bürger im Auge; zur Bewältigung dieser Aufgabe hatte der Staat Spezialfahrzeuge angeschafft, sehr niedrige, raketenähnliche Fahrzeuge, die es den Beamten erlaubten, ihre Kontrollen schnell und sicher durchzuführen. Wer gegen die Regeln verstieß, musste bis zu 4.000 € Strafe Zahlen.

Die Zeichen stehen auf Wurm

Erstaunlicherweise gab es, obwohl die aufgezwungenen Fortbewegungsmethoden für alle äußerst anstrengend waren, recht wenig Verstöße. Die Leute hatten einfach zu viel Angst und nahmen Strapazen und Qualen in Kauf. Selbstverständlich litten sie, aber kaum jemand wagte, aufzumucken. Die politische Opposition war verstummt und selbst kritische Intellektuelle oder Künstler fühlten sich plötzlich der Macht verbunden.

Um das Leben der Kriecher zu erleichtern, wurden auf allen Kanälen Sondersendungen angeboten. Show-Stars traten nicht mehr auf, sondern krochen auf. Sportler führten vor, wie ihre jeweiligen Sportarten auch im Bereich unter 80 cm durchgeführt werden konnten, wobei sich besonders ein landesweit bekannter Stabhochspringer auszuzeichnen wusste. Es gab Wohltätigkeitskriechen und von Künstlern eingerichtete Kriech-Installationen zugunsten von Menschen, die sich beim Kriechen verletzt hatten. Eine bekannte Köchin gab Kurse in Kriech-Kochen, es gab Kriech-Denksport und Kriech-Yoga und eine neue permanente Nachrichtensendung: Kampf den Viren auf allen vieren! Fernsehphilosophen machten den Menschen Mut, indem sie auf die Zeit nach dem Virus hinwiesen, die möglicherweise Verbesserungen ungeahnten Ausmaßes mit sich bringen würde.

Indessen wurde draußen weiter kontrolliert, Verstöße gegen die Vorschriften immer strenger geahndet. Ein älterer Mann, der beim Kriechen die Schmerzen in den Schultern nicht mehr ertragen und sich kurz aufgerichtet hatte, war dabei von einer Polizeistreife beobachtet und sogleich in Gewahrsam genommen worden. Eine Frau, die sich, statt hinter ihrem Mann herzukriechen, in betrunkenem Zustand auf dessen Rücken gesetzt hatte und dadurch mit dem Oberkörper in den Virusbereich geraten war, bekam eine dreimonatige Haftstrafe. Für Wiederholungstäter gab es die sogenannte Genickschelle, eine gusseiserne Halskrause, die den Kopf auf den Boden zwang.

Knieschoner und Handschuhe waren ausverkauft und gewiefte Geschäftsleute sowie Kriminelle wandten sich dem Handel mit besagten Materialien zu. Bahndraisinen und Lederschürzen kamen wieder in Mode. Für Handys wurde eine besonders empfindliche Höhenmesser-App entwickelt. Tag für Tag gab es neue Zahlen-Hitparaden, was Tote, Infizierte, widerrechtlich Handelnde, Festnahmen, Verstöße, Bußgelder usw. anbelangte. Unzählige Pressekonferenzen belegten, dass alle Maßnahmen fruchteten.

Von einem Journalisten, der es gewagt hatte, das Wort „Duckmäusertum“ zu gebrauchen, war, aus welchen Gründen auch immer, danach nichts mehr zu hören.

Als ich, benommen von all den Nachrichten, in den Garten hinausging, sah ich die Nachbarin zwischen den Beeten kriechen. Als sie mich erblickte, stieß sie einen bedrohlichen Schrei aus und robbte ins Haus. Ich stellte fest, dass ich aufrecht stand. Ich war noch nie in meinem Leben in den Garten gekrochen und hatte es auch jetzt nicht vorgehabt.

Als ich etwas später den Hubschrauber über mir sah, erinnerte ich mich an das Resultat einer Umfrage: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hatte sich dafür ausgesprochen, Menschen aufrechten Ganges anzuzeigen, fast 90 Prozent meiner Mitbürger hatten sich zum Denunziantentum bekannt.

In dem Augenblick ergriff auch mich die Angst.

Die Krise schreiben

Jede Woche kommt an dieser Stelle ein Schriftsteller zu Wort, der die aktuelle Krise fiktional oder essayistisch umfasst und somit neue Denkanstöße gibt.

Nico Helminger ist einer der bekanntesten Luxemburger Autoren. Sein letzter Roman „Kuerz Chronik vum Menn Malkowitsch sengen Deeg an der Loge“ (den man unbedingt gelesen haben sollte) wurde 2018 mit dem „Prix Servais“ und dem „Lëtzebuerger Buchpräis“ ausgezeichnet. 

„KAMPF DEN VIREN AUF ALLEN VIEREN!“ ist im April auf der von der Autorin Sandra Schmit ins Leben gerufenen Internetseite „coronaliterature.org“ erschienen, auf der Schriftsteller weltweit Texte als Reaktion auf die Pandemie und die einhergehenden demokratischen Freiheitseinschränkungen veröffentlichen können. In der kommenden Woche gibt es an dieser Stelle ausgiebigere Informationen zur Internetseite – und wir veröffentlichen einige Texte von Sandra Schmit.