Henri Cartier-Bresson: „Das Auge des Jahrhunderts“

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Er schoss in Sekundenbruchteilen vollkommene Bilder. Seine fantastische Gabe, das Wesentliche eines Augenblicks, das Typische einer Person mit menschlicher Wärme einzufangen, machte ihn für seinen Biografen Pierre Assouline zum „Auge des Jahrhunderts“. Tobias Schmidt, Paris

Henri Cartier-Bresson, bis heute der berühmteste französische Fotograf, wäre am kommenden Freitag 100 Jahre alte geworden. Zu seinem Jubiläum würdigen seine Stiftung in Paris und mehrere Verlage den Magier des Moments mit Ausstellungen und Sonderausgaben. Cartier-Bresson, Mitbegründer der legendären Agentur Gamma, vor vier Jahren in seinem Haus in der Provence gestorben, beschrieb das Geheimnis seiner Kunst einmal als „Lebensweise“: Es gehe darum, den Kopf, das Herz und das Auge gleichzuschalten, den Atem anzuhalten und so die flüchtige Wirklichkeit zu fassen. Wie 1952, als ein Lausbub mit zwei Rotweinflaschen unter den Armen und geschwellter Brust durch die Pariser rue Mouffetard stolziert. Oder 1933, als sich eine Horde vom spanischen Bürgerkrieg gezeichneter Kinder in einem zerstörten Hof in Sevilla balgt. Geniale Schnappschüsse, die durch die Schlichtheit ihrer Komposition und ihre reduzierte Eleganz ergreifen. Zu den Ikonen der Fotografie des 20. Jahrhunderts wurde auch das Bild des Mannes, der am Pariser Bahnhof Saint-Lazare im Gegenlicht über eine Pfütze springt, die seine Silhouette spiegelt. Instinktiv drückte Cartier-Bresson zur rechten Zeit am rechten Ort auf den Auslöser. „Er suchte nicht das Foto, sondern wenn er ein Foto sah, holte er seine Leica heraus“, erinnerte sich der Gründer der Agentur Sipa, Göksin Sipahioglu. Cartier-Bresson wurde am 22. August 1908 in Chanteloup bei Paris als Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten geboren. 1931 entdeckte er auf einer Afrikareise seine Berufung. Im Jahr darauf erstand er in Marseille seine erste Leica. Die „Verlängerung meines Auges“ nannte er die leicht zu handhabende Kamera, die es ihm erst ermöglichte, seine Bilder diskret und quasi inkognito zu schießen.

Er sah das Foto, bevor er es machte

Er verzichtete bis zum Ende seiner Karriere auf Blitzlicht oder nachträgliche Ausschnittsvergrößerungen und blieb dem Schwarz-Weiß-Film und dem 50mm-Normalobjektiv treu. 1943 entkam Cartier-Bresson aus deutscher Kriegsgefangenschaft, vier Jahre später gründete er mit Robert Capa, David Seymour, George Rodger und William Vandivert die Agentur Magnum. Er reiste durch die Sowjetunion, Indonesien, China, Mexiko und Indien. Gandhi traf er eine halbe Stunde vor dessen Ermordung. Er hielt das Berlin nach dem Mauerbau fest, arbeitete für Life, Vogue und Harper’s Bazaar. Seine Bilder von der Krönung des britischen Königs Georgs VI (1937) und der Beerdigung Gandhis wurden zu Meilensteinen der modernen Fotoreportage. Bekannt wurden auch seine Porträts von Künstlern wie Truman Capote, Jean-Paul Sartre, Pablo Picasso oder Henri Matisse. Cartier-Bresson war noch nicht einmal 40 Jahre alt, als das New Yorker Museum für Moderne Kunst ihm eine Retrospektive widmete. Doch Stargehabe blieb dem Mann mit dem gewinnenden Lächeln immer fremd. Den Eröffnungen einer großen Ausstellung in der Pariser Nationalbibliothek und seiner Stiftung im letzten Jahr vor seinem Tod blieb er fern. „Er wollte kein Mythos werden“, sagt seine zweite Frau, die Fotografin Martine Franck. In den letzten Jahrzehnten wandte er sich wieder dem Zeichnen zu, einer Kunstform, die ihn schon in seiner Jugend begeisterte. Jenseits der weltbewegenden Ereignisse widmete sich Cartier-Bresson dem Alltag der Menschen. „Es gibt nichts auf der Welt, das nicht einen entscheidenden Augenblick hätte“, sagte er. Diese einzufangen, war seine Mission. Bis heute weltberühmt ist sein Buch „à propos de Paris“, das der Schirmer/Mosel-Verlag anlässlich seines 100. Geburtstages in einer Sonderausgabe neu aufgelegt hat. Immer wieder kehrte der Fotograf in seine Heimatstadt zurück. In den auf seinen Streifzügen entstandenen Aufnahmen wird ihre Atmosphäre für die Ewigkeit festgehalten. Noch bis zum Sonntag sind die Fotos aus „à propos de Paris“ im Rathaus Fellbach bei Stuttgart zu sehen. Die Fondation Henri Cartier-Bresson in Paris zeigt vom 10. September bis zum 21. Dezember in einer Sonderausstellung ihres Museums Fotos, die in den 30er und 40er Jahren in den USA entstanden.
www.henricartierbresson.org